Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
neue Familie gründen und seinem Land im wahren Geist des Kommunismus dienen – durch Arbeit und Hingabe.«
»Ich habe mein Leben gelebt«, erwiderte Kommandant Ga. »Auf den Rest kann ich verzichten.«
Ich holte zwei Beruhigungstabletten aus dem Schrank. Als Kommandant Ga seine ablehnte, schluckte ich beide.
Dann sah ich die Windeln durch, bis ich eine mittelgroße fand.
»Wollen Sie eine?«, fragte ich. »Wir haben ein paar auf Lager, falls hier Prominente durchkommen. Ist manchmal weniger peinlich. Hier, ich habe eine große.«
»Nein danke«, sagte er.
Ich zog mir die Hose herunter und legte mir eine Windel um.
»Ich habe eine Menge Respekt vor Ihnen«, sagte ich. »Von allen, die hier durchgekommen sind, sind Sie der Einzige, der den Mund nicht aufgemacht hat. Sie waren schlau – wenn Sie uns verraten hätten, wo die Filmdiva ist, wären Sie augenblicklich umgebracht worden.«
»Schließen Sie mich an das Gerät hier an?«
Ich nickte.
Er betrachtete die Verkabelung und die Voltanzeigen des Autopiloten. »Es ist kein großes Geheimnis«, sagte er. »Die Filmdiva ist schlicht und einfach getürmt.«
»Sie geben nie auf, was? Sie werden gleich alles verlieren, alles außer Ihrem Herzschlag, und trotzdem versuchen Sie immer noch, uns von der richtigen Fährte abzubringen.«
»Aber es ist wahr«, erwiderte er. »Sie ist ins Flugzeug gestiegen und weggeflogen.«
»Unmöglich«, erwiderte ich. »Es kann ja sein, dass ein paar Bauern ihr Leben aufs Spiel setzen, um einen eiskalten Fluss zu durchschwimmen. Aber unsere Volksschauspielerin, unter der Nase des Geliebten Führers? Sie beleidigen mich.«
Ich händigte ihm ein Paar papierene Einwegschuhe aus. Er saß auf seinem himmelblauen Stuhl, ich auf meinem, und wir beide zogen Schuhe und Socken aus und die Papierschuhe über.
»Ich will Sie nicht beleidigen, aber was glauben Sie, was das für Fotos auf meinem Mobiltelefon sind?«, fragte er. »Meine Frau und meine Kinder verschwinden, und dann tauchen von weit weg Fotos einer Frau mit ihren Kindern auf. Ist das wirklich so mysteriös?«
»Das ist sehr rätselhaft, das gebe ich gerne zu. Ich habe viel darüber nachgegrübelt. Aber ich weiß nun einmal, dass Sie die Menschen getötet haben, die Sie lieben. Es kann nicht anders sein.« Ich zog sein Telefon aus der Tasche und löschte die Bilder. »Wenn ein Vernehmungsbeamter anfängt, das Einzige in Frage zu stellen, was er mit Sicherheit weiß, dann ... aber was soll’s. Das bin ich nicht mehr. Ich sammle keine Biografien mehr. Mir geht es jetzt nur noch um meine eigene Geschichte.« Ich legte das Mobiltelefon in eine Edelstahlschale, dazu ein paar Münzen und meinen Dienstausweis, auf dem nur »Vernehmungsbeamter« stand, sonst nichts.
Ga zeigte auf die Ledergurte. »Sie wollen mich doch nicht festschnallen, oder?«
»Es tut mir leid, das muss ich tun. Meine Kollegen sollen wissen, dass ich das mit Ihnen gemacht habe, nicht umgekehrt.«
Ich kippte ihn nach hinten und schnallte ihn an Armen und Beinen fest, allerdings recht locker, um ihm nicht weh zu tun.
»Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, Ihre Biografie zu Ende zu schreiben«, entschuldigte ich mich bei ihm. »Wenn ich nicht versagt hätte, hätte ich sie jetzt mit Ihnen mitschicken können, und auf der anderen Seite hätten Sie dann nachlesen können, wer Sie mal waren, um wieder Sie selbst zu werden.«
»Keine Bange«, tröstete er mich. »Sie wartet auf der anderen Seite auf mich. Sie wird mich erkennen und mir sagen, wer ich bin.«
»Anbieten kann ich Ihnen das hier«, sagte ich und hielt ihm einen Stift hin. »Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Namen irgendwo auf Ihren Körper schreiben, an eine Stelle, wo es niemand bemerkt – auf Ihren Umkyuong oder zwischen die Zehen. So können Sie dann später vielleicht herausfinden, wer Sie einmal waren. Das ist kein Trick, um Ihnen Ihren Namen zu entlocken, das dürfen Sie mir glauben.«
»Und, tun Sie es?«
»Ich will nicht wissen, wer ich mal war«, antwortete ich.
»Ich wüsste nicht einmal, welchen Namen ich hinschreiben sollte«, sagte er zu mir.
Ich kniete mich neben ihn, um die Elektroden an seinem Schädel anzubringen. »Ihre Geschichte wird über die Lautsprecher erzählt, wussten Sie das?«
»Warum?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Aber da Sie nun morgen nicht im Fußballstadion Buße tun werden, werden die sich ein neues Ende für Ihre Geschichte ausdenken müssen.«
»Ein Ende für meine Geschichte«, sagte er.
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