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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Marmorsockeln glitzerte, und ihm war so klar wie ihr, dass auch er das nie wiedersehen würde. Wenn er Glück hatte, wurde er wieder ins Bergwerk gesteckt. Höchstwahrscheinlich wurde er in einen Folterbunker des Geliebten Führers gebracht. So oder so: Er würde nie wieder Fichtennadelduft in der Nase haben oder den Geruch von Hirse, die am Straßenrand in großen Krügen vergoren wurde. Auf einmal genoss er den Staub, den der Mustang aufwirbelte, das Ta-tack der Reifen auf der Yanggakdo-Brücke. Er sah die Schindeln auf dem Dach des Pavillons der Selbstkritik smaragdgrün aufblitzen und freute sich über die rote Digitalanzeige des Neugeborenenzählers oben auf der Entbindungsklinik.
    Im Norden kreiste das große, amerikanische Militärflugzeug unentwegt über dem Flughafen, als wolle es endlos Bomben abwerfen. Ga wusste, dass er den Kindern eigentlich ein paar Worte Englisch beibringen sollte. Er wusste, dass er ihnen beibringen müsste, wie sie ihn zu denunzieren hatten, falls etwas schiefging. Doch er spürte Sun Moons Trauer, und das beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit.
    »Hast du dich mit deiner Gitarre angefreundet?«, fragte er sie.
    Sie schlug einen schrägen Ton an.
    Er hielt ihr seine Zigaretten hin. »Soll ich dir eine anstecken?«
    »Nicht vor dem Singen«, sagte sie. »Ich rauche, sobald die Maschine in der Luft ist. In dem amerikanischen Flugzeug rauche ich hundert Stück.«
    »Wir fliegen mit einem Flugzeug?«, wollte der Junge wissen.
    Sun Moon beachtete ihn nicht.
    »Du wirst also das Abschiedslied für das Rudermädchen singen?«, fragte Ga.
    »Muss ich ja wohl«, antwortete Sun Moon.
    »Wovon handelt das Lied?«
    »Ich habe es noch nicht geschrieben. Die Worte werden kommen, wenn ich erst einmal spiele«, sagte sie. » Vor allem drängen sich Fragen in mir.« Sie nahm die Gitarre zur Hand und schrammelte einmal über die Saiten. »Wie lange kennen wir uns schon?«, sang sie.
    »Wie lange kennen wir uns schon« , antwortete das Mädchen im klagenden Ton.
    »Über sieben Meere musst du rudern«, sang Sun Moon.
    »Über sieben Meere musst du gehn«, sang ihre Tochter.
    Sun Moon schlug die Saiten an: » Doch jetzt bist du auf dem achten Meer. «
    » Das Meer, wo wir zu Hause sind« , sang der Junge mit höherer Stimme als seine Schwester.
    Tiefe Zufriedenheit erfasste Ga, als er sie so singen hörte, als ob endlich etwas aus weiter Vergangenheit in Erfüllung gegangen wäre.
    »Flieg, mein Rudermädchen, flieg davon, und lass das Meer zurück«, sang Sun Moon.
    Das Mädchen antwortete: »Flieg, mein Rudermädchen, flieg davon, und lass das achte hinter dir.«
    »Ganz hervorragend«, lobte Sun Moon. »Und jetzt alle zusammen.«
    Das Mädchen wollte wissen: »Und wer ist das Rudermädchen?«
    »Wir fahren zum Flughafen, um uns von ihr zu verabschieden«, antwortete Sun Moon. »Jetzt alle zusammen!«
    Und dann sang die Familie miteinander: »Flieg, mein Rudermädchen, flieg davon, und lass das achte hinter dir.«
    Die Stimme des Jungen war kräftig und kindlich, die des Mädchens rau, da sie allmählich zu begreifen begann. Zusammen mit Sun Moons sehnsuchtsvoller Stimme entstand eine Harmonie, die Ga guttat. Keine andere Familie der Welt konnte so zusammen singen, und er saß mittendrin in diesem warmen Schein. Nicht einmal der Anblick des Fußballstadions konnte dieses Gefühl trüben.
    *
    Sie durften als Ehrengäste direkt ums Flughafengebäude herum zu den Hangars fahren, wo sich zur Begrüßung der Amerikaner bereits größere Menschenmengen versammelt hatten, allesamt Bürger mit Aktentaschen, Werkzeugkästen und Rechenschiebern in der Hand – so, wie sie auf den Straßen Pjöngjangs zum Jubeln verpflichtet worden waren.
    Die Wangjaesan Light Music Band spielte »Blitzkampf-Haarschnitt«, um der militärischen Errungenschaften des Geliebten Führers zu gedenken; eine Kinderriege in grün-gelben Trikots balancierte bereits auf großen, weißen Plastikfässern und rollte diese mit den Füßen vorwärts. Hinter dem Dunstvorhang vom Grillfeuer konnte Ga Wissenschaftler, Soldaten und die Männer des Ministers für Massenmobilisierung mit den gelben Armbinden erkennen, die die Menschen nach Größe geordnet aufstellten.
    Endlich hatten die Amerikaner wohl doch beschlossen,dass sie sicher landen könnten. Das graue Monstrum, dessen Flügel breiter waren als die Landebahn, schwenkte herum und schaffte es, zwischen dem Spalier aus schrottreifen Antonows und Tupolews sicher aufzusetzen.
    Ga parkte den

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