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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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und versuchte aus der Art, wie er die Mütze in den Nacken schob und sich die Augen rieb, zu erraten, was er in den Hörer sprach. Jun Do konnte unten im Schiffsbauch nur empfangen. An Land bastelte er heimlich an einem Sender, doch je näher er dessen Vollendung kam, desto nervöser machte ihn die Frage, was er hineinsagen sollte.
    Als der Kapitän wiederkam, setzte er sich in den Einschnitt in der Reling, durch den die Winde ausgeschwenkt wurde, und ließ die Beine über die Seite hängen. Er nahm die Mütze ab, ein schmutziges Ding, das er nur selten trug, und legte sie beiseite. Jun Do betrachtete das Messingemblem: Hammer und Sichel, darunter ein Kompass und eine Harpune. Solche Mützen wurden nicht mal mehr hergestellt.
    »Und«, sagte der Steuermann. »Was wollen sie?«
    »Garnelen«, berichtete der Kapitän. »Lebende Garnelen.«
    »Aus diesem Gewässer?«, fragte der Steuermann. »Um diese Jahreszeit?« Er schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Geht nicht.«
    Jun Do fragte: »Warum importieren sie nicht einfach welche?«
    »Das habe ich auch gefragt«, antwortete der Kapitän. »Nein, es müssen nordkoreanische Garnelen sein, haben sie gesagt.«
    Eine solche Anfrage konnte nur aus allerhöchsten Kreisen,vielleicht sogar von ganz oben kommen. Die Fischer hatten schon davon gehört, dass man in Pjöngjang ganz versessen auf Kaltwassergarnelen war. Und die wurden neuerdings lebendig verspeist.
    »Was sollen wir tun?«, fragte der Steuermann.
    »Was machen wir bloß«, sagte der Kapitän. »Was machen wir bloß?«
    »Was sollen wir schon machen?«, fragte Jun Do zurück. »Wir haben den Befehl erhalten, Garnelen zu besorgen, also besorgen wir Garnelen, oder etwa nicht?«
    Der Kapitän sagte nichts, sondern legte sich aufs Deck zurück, ließ die Beine über Bord hängen und schloss die Augen. »Sie hat wirklich dran geglaubt, wisst ihr«, sagte er. »Meine Frau. Sie hat geglaubt, dass der Sozialismus das Einzige ist, was uns wieder stark machen kann. Eine Zeitlang würde es schwierig werden, hat sie immer gesagt, und alle müssten Opfer bringen. Aber dann würde sich die Lage bessern. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal vermissen würde. Mir war nicht klar, wie sehr ich jemanden brauche, der mir immer wieder klarmacht, warum ich weitermache.«
    »Warum?«, fragte der Steuermann. »Weil andere Leute von dir abhängig sind, darum. Alle hier an Bord brauchen dich. Stell dir vor, der Zweite Maat könnte dir nicht den ganzen Tag lang Löcher in den Bauch fragen.«
    Der Kapitän redete einfach weiter. »Vier Jahre haben mir die Russen aufgebrummt«, sagte er. »Vier Jahre auf einer schwimmenden Fischfabrik, immer auf See, nicht ein einziges Mal haben wir einen Hafen angefahren. Ich habe es geschafft, dass die Russen meine Mannschaft freigelassen haben. Alles junge Kerle vom Dorf. Aber ich bezweifle, dass es noch mal so ausgehen würde.«
    »Wir fahren einfach raus und halten Ausschau nach Garnelen«, lenkte der Steuermann ein, »und wenn wir keine kriegen, dann kriegen wir eben keine.«
    Der Kapitän äußerte sich nicht zu dem Plan. »Immer kamen die Trawler zu uns«, sagte er. »Wochenlang waren sie draußen, dann tauchten sie auf und leiteten ihren Fang auf das Gefängnisschiff um. Nie wussten wir, was kam. Wir standen unten auf dem Schlachtdeck, hörten die Maschine von dem Trawler, der achtern anlegte, dann gingen die hydraulischen Klappen auf. Manchmal mussten wir sogar auf die Sägetische springen, weil Tausende von Fischen wie ein Sturzbach die Rutsche runterkamen – Thunfisch, Barsch, Schnapper oder kleine Sardinen – und auf einmal stand man hüfttief in dem Zeug, und dann hieß es: Ran an die Druckluftsägen, weil keiner da rauskam, bis nicht sämtliche Fische ausgenommen waren und wir uns rausgearbeitet hatten. Manchmal war Reif auf den Fischen, weil sie schon sechs Wochen unter Deck gelegen hatten, manchmal waren sie erst am selben Morgen rausgeholt worden und hatten noch den Schleim des Lebens an sich.
    Gegen Nachmittag wurden immer die Abflussrinnen durchgespült, und Tausende Liter Fischinnereien flossen raus ins Meer. Dann sind wir hoch an Deck gegangen, um uns das anzusehen. Aus dem Nichts tauchten ganze Wolken von Seevögeln auf, und dann die Haie und die Fische, die an der Oberfläche schwimmen – da war die Hölle los, das könnt ihr mir glauben. Und dann stiegen von ganz unten die Riesenkalmare auf, riesige Tintenfische aus der Arktis, Albinos, wie Milch sahen sie im Wasser aus. Wenn sich

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