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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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diese Monsterviecher aufregen, wird ihre Haut rot und wieder weiß, rot und wieder weiß. Wenn die zuschlagen wollen, dann laden sie sich auf und lassen Blitze los, so hell, das kann man sich nicht vorstellen. Ihr Angriff sah aus wie ein Gewitter unter Wasser.
    Eines Tages kamen zwei Trawler auf die Idee, die Riesenkalmare zu fangen. Einer ließ ein Schleppnetz runter, das tief hinunter in die See hing. Das Ende war an dem zweiten Trawler befestigt, der an der Chose zog. Die Tintenfische kamen langsam an die Oberfläche, manche hundert Kilo schwer, und als sie anfingen zu blitzen, wurde das Netz unter ihnen eingeholt und zugemacht.
    Wir haben alle von Deck aus zugeguckt. Wir haben applaudiert, stellt euch das vor. Und dann sind wir zurück an die Arbeit gegangen, als ob nicht gleich Hunderte wütend aufgeladene Riesenkalmare das Loch heruntergerutscht kämen und uns unter sich begraben würden. Schick mir tausend Haie, kein Problem – die haben wenigstens nicht zehn Arme und schwarze Schnäbel. Haie werden nicht sauer und haben keine Riesenaugen und erst recht keine Saugnäpfe mit Widerhaken dran. Mein Gott, dieses Geräusch, als die Riesenkraken die Rutsche runterkamen, wie sie ihre Tinte verspritzten, diese Schnäbel am Stahl, wie sie sich verfärbten und blitzten. Wir hatten einen jungen Kerl an Bord, einen kleinen Vietnamesen, den werde ich nie vergessen. Netter Kerl, ein ziemlicher Grünschnabel, so ähnlich wie unser junger Zweiter Maat hier. Ich hatte ihn ein bisschen unter meine Fittiche genommen. Er war ein Kind, er hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung. Und seine Handgelenke, die hättet ihr mal sehen sollen. Die waren nicht stärker als so.«
    Jun Do lauschte der Geschichte, als würde sie von ganz weit weg übertragen. Für wahre Geschichten wie diese, von Menschen erlebte, konnte man im Gefängnis landen, ganz egal, wovon sie handelten. Ob es in der Geschichte um eine alte Frau oder um einen Krakenangriff ging, spielte keine Rolle – Gefühle, die die Aufmerksamkeit vom Geliebten Führer ablenkten, waren immer gefährlich. Jun Do brauchte seineSchreibmaschine, er musste das aufschreiben, das war doch der Grund, warum er im Dunkeln saß und lauschte.
    »Und wie hieß er?«, fragte er den Kapitän.
    Der Kapitän redete einfach weiter: »Aber es waren ja nicht die Russen, die mir meine Frau weggenommen haben. Die Russen wollten nur vier Jahre von mir. Nach vier Jahren haben sie mich gehen lassen. Aber hier hört es niemals auf. Hier hat nichts ein Ende.«
    »Was meinst du damit?«, fragte der Steuermann.
    »Damit meine ich: Kursänderung«, sagte der Kapitän. »Auf Nord.«
    Der Steuermann wollte wissen: »Wir machen doch keine Dummheiten, oder?«
    »Was wir machen, ist, die Garnelen besorgen, und damit basta.«
    Jun Do fragte ihn: »Warst du auf Garnelenfang, als die Russen dich geschnappt haben?«
    Aber der Kapitän hatte die Augen geschlossen.
    »Vu«, sagte er. »Der Junge hieß Vu.«
    *
    In der nächsten Nacht schien der Mond hell, und sie schipperten hoch oben im Norden herum, in den Untiefen von Juljuksan, einer Inselkette aus vulkanischem Riffgestein, auf die Russland ebenso Anspruch erhob wie Nordkorea. Der Kapitän hatte Jun Do schon den ganzen Tag angehalten, die Ohren aufzusperren – »Horch auf alles in unserer Nähe, egal, was es ist« –, aber als sie sich dem südlichsten Atoll näherten, ließ der Kapitän alle Geräte abstellen, damit sämtliche Batterien für die Suchscheinwerfer benutzt werden konnten.
    Bald schon waren vereinzelte Brecher zu hören; die Männer waren angespannt. Sie sahen den leuchtend weißen Schaum der Wellen, erahnten aber lediglich das schwarze Vulkangestein unter der Oberfläche, auf das sie jederzeit aufzulaufen drohten. Auch der Mond half nichts, wenn die Felsen unsichtbar waren. Der Kapitän stand neben dem Steuermann am Ruder, während der Erste Maat den großen Scheinwerfer im Bug lenkte. Mit Handscheinwerfern bewaffnet waren der Zweite Maat an Steuerbord und Jun Do an Backbord stationiert. Alle leuchteten ins Wasser und hofften, die Untiefen so zu sichten. Mit ihrem vollen Bauch lag die Junma tief und schwerfällig im Wasser; der Maschinist war im Maschinenraum, falls schnell Schub nötig war.
    Es gab einen einzigen Kanal, der sich durch Felder erstarrter Lava wand, über die sogar die Flut nur mühsam kroch, und bald schon begann die Strömung, sie schnell und fast seitwärts durch die Rinne zu ziehen, während das dunkel glitzernde Gestein unter Jun

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