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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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gehört. Sie reden über Andocken und Manöver. Solches Zeug.«
    »Nimm’s mir nicht übel, aber das klingt irgendwie wie die Verschwörungstheorien, mit denen es die alten Klatschweiber bei uns im Block immer haben.«
    Als der Zweite Maat das laut aussprach, kam es auch Jun Do etwas paranoid vor. Aber im Grunde gefiel ihm die Idee einer Verschwörung. Menschen, die miteinander kommunizierten, Dinge planten, daran musste er glauben – dass das Tun der Menschen Absicht, Bedeutung und Sinn hatte. Die meisten Leute, die normalen, die mit einem Platz in der Welt, brauchten solche Gedanken nicht. Das Mädchen, das am Tag ruderte, hatte den Horizont, von dem sie kam, vor Augen, und wenn sie sich umdrehte, den Horizont, auf den sie zufuhr. Aber das Mädchen, das im Dunkeln ruderte, hatte nur das Plätschern und den Widerstand bei jedem Ruderschlag und den Glauben, dass die Summe aller Schläge sie nach Hause bringen würde.
    Jun Do sah auf die Uhr. »Jetzt sendet gleich die, die nachts rudert«, sagte er. »Oder willst du das Mädchen von tagsüber?«
    Der Zweite Maat wurde plötzlich sauer. »Hey, was soll das? Ist doch egal, welche. Ich will keine von beiden. Meine Frau ist das schönste Mädchen im ganzen Viertel. Wenn ich in ihre Augen schaue, weiß ich immer genau, was sie denkt. Ich weiß, was sie sagen wird, bevor sie es ausspricht. Das ist Liebe, frag doch die Alten.«
    Der Zweite Maat rauchte noch eine Zigarette und warf die Kippe dann ins Wasser. »Und wenn sich nun tatsächlich die Russen und die Amerikaner am Meeresboden herumtreiben – warum meinst du, dass die Übles im Schilde führen?«
    Jun Do sinnierte über die allgemein verbreiteten Definitionen von Liebe nach: Liebe sei ein Paar nackte Hände, das sich um ein Stück glimmende Kohle schließt, damit sie nicht ausgeht. Eine Perle, die ewig glänzt, selbst noch im Magen des Aals, der die Auster verschluckt. Liebe sei ein Bär, der einem mit seinen Klauen Honig füttert. Jun Do stellte sich die beiden Mädchen vor: Wie sie sich in Arbeit und Einsamkeit abwechselten, der Augenblick, in dem die Riemen übergeben wurden.
    Jun Do zeigte aufs Wasser. »Die Amerikaner und die Russen sind da unten, und die führen was im Schilde, das weiß ich einfach. Hast du jemals gehört, dass U-Boote im Auftrag von Frieden und Brüderlichkeit unterwegs sind?
    Der Zweite Maat legte sich wieder zurück aufs Windenhaus, über ihnen der riesige Himmel. »Nicht dass ich wüsste«, antwortete er.
    Der Kapitän kam aus dem Steuerhaus und befahl dem Zweiten Maat, die Latrineneimer zu reinigen. Jun Do bot dem Kapitän eine Zigarette an, doch der lehnte ab. »Setz dem bloß keine Flöhe ins Ohr«, sagte er, als der Junge nach unten verschwunden war, und ging vorsichtig über die Gangway bis in den hoch aufragenden Bug der Junma . Ein riesiges Schiff glitt vorbei, sein Deck war mit Neuwagen gepflastert. Als es vorbeifuhr, wahrscheinlich von Südkorea nach Kalifornien, glitzerte das Mondlicht in schneller Folge auf tausend neuen Windschutzscheiben.
    *
    Ein paar Nächte später waren die Lagerräume der Junma voll, und sie nahmen Kurs nach Westen, gen Heimat. Jun Do rauchte gerade mit dem Kapitän und dem Steuermann, als sie das rote Lämpchen im Steuerhaus blinken sahen. Der Wind kam von hinten, sodass es an Deck ruhig war, fast als stünden sie still. Das Lämpchen blinkte wieder. »Und, gehst du dran?«, fragte der Steuermann den Kapitän.
    Der Kapitän nahm die Zigarette aus dem Mund und sah ihn an. »Was bringt’s?«
    »Was bringt’s?«, wiederholte der Steuermann.
    »Genau, was soll das schon bringen? Für uns kommt sowieso nichts Gutes dabei raus.«
    Schließlich stand der Kapitän aber doch auf und zog sein Jackett glatt. Die Gefangenschaft in Russland hatte ihn vom Trinken geheilt, aber er bewegte sich so langsam auf das Steuerhaus zu, als müsse er sich nur was Hochprozentiges besorgen und nicht einen Funkanruf aus dem Seefahrtsministerium in Ch'ŏngjin entgegennehmen. »Viel Kraft hat der Mann nicht mehr«, sagte der Steuermann, aber als das rote Lämpchen erlosch, wussten sie, dass der Kapitän drangegangen war. Allerdings hatte er auch keine andere Wahl. Die Junma war nie außer Reichweite. Das Schiff hatte früher den Russen gehört, und die hatten es mit einer U-Boot-Funkanlage ausgestattet - mit der langen Antenne konnte man sogar von unter Wasser senden, und betrieben wurde sie mit einem 200-Volt-Akku.
    Jun Do betrachtete die Silhouette des Kapitäns im Steuerhaus

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