Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
alles, was aus Metall ist, und du bist unten im Abfalltank gefangen, und keiner, absolut keiner kommt mit einem Eimer heißem Wasser, um dich da rauszuholen.«
Der Kapitän sah ihn zwar nicht direkt an, aber Jun Do fragte sich trotzdem, ob dieses ständige Gerede vom Gefängnis auf ihn abzielte, weil er die Lauschausrüstung an Deck gebracht hatte: Um ihm klarzumachen, dass so etwas wieder passieren könnte.
*
Als es dunkel wurde und die anderen nach unten gingen, bot Jun Do dem Zweiten Maat drei Päckchen Zigaretten, wenn er auf das Steuerhaus stieg und den Mast hochkletterte, an dem der Lautsprecher befestigt war.
»Ich mach’s«, sagte der Zweite Maat. »Aber ich will keine Zigaretten, ich will die Rudermädchen hören.«
Ständig fragte ihn der junge Maat, wie es in Städten wie Seoul oder Tokio sei, und konnte einfach nicht glauben, dass Jun Do noch nie in Pjöngjang gewesen war. Schnell klettern konnte er nicht, aber er war neugierig, wie die Funkanlage funktionierte, und das war die halbe Miete. Jun Do ließ ihn ein paar Mal den Splint herausziehen, sodass sich die Richtantenne abnehmen und aufs Wasser ausrichten ließ.
Danach saßen sie auf dem immer noch warmen Dach des Windenhauses und rauchten. Der Wind brauste in ihren Ohren und ließ die Zigaretten aufglühen. Auf dem Wasser war nicht ein einziges Licht, und die Horizontlinie trennte das tiefe Schwarz des Meeres vom milchigen Dunkel des mit Sternen überladenen Himmels. Über ihnen flogen Satelliten, und im Norden zogen Sternschnuppen ihren Schweif hinter sich her.
»Die Mädchen im Boot«, sagte der Zweite Maat. »Glaubst du, die sind verheiratet?«
»Keine Ahnung«, sagte Jun Do. »Ist doch auch egal, oder?«
»Wie lange dauert das, um die Welt zu rudern? Ein paar Jahre? Selbst wenn sie keine Männer haben, was ist mit denanderen, den Leuten, die sie zurückgelassen haben? Ist diesen Mädchen alles scheißegal oder was?«
Jun Do pflückte einen Tabakkrümel von seiner Zunge und sah den Jungen an, der die Hände unter dem Kopf gefaltet hatte und hinauf in die Sterne blickte. Es war eine gute Frage – Was ist mit den Leuten, die sie zurückgelassen haben? Aber komisch, dass sie den Zweiten Maat beschäftigte. »Vorhin«, sagte Jun Do, »warst du doch noch total für die heißen Rudermädchen. Haben sie dich irgendwie geärgert?«
»Nein, ich frage mich nur, was die sich dabei denken. Dass sie sich einfach in ein Boot setzen und lospaddeln.«
»Würdest du das nicht auch machen, wenn du es könntest?«
»Das ist doch genau das, was ich meine. Das kann man nicht. Wer schafft so was schon – die ganzen Wellen, das viele Eis, in so einer Nussschale? Jemand hätte sie davon abhalten sollen. Jemand hätte ihnen diese beschissene Idee ausreden sollen.«
Der Junge klang, als kämen ihm derart tiefschürfende Gedanken zum ersten Mal. Jun Do beschloss, ihn ein wenig davon abzubringen. »Na, die Hälfte haben sie ja schon geschafft«, erinnerte er ihn. »Außerdem sind sie sicher ernstzunehmende Sportlerinnen. Wahrscheinlich lieben sie das, was sie da machen, und haben ewig dafür trainiert. Und wenn du ›Boot‹ sagst, dann darfst du dir nicht so was wie unseren Rostkahn vorstellen. Das sind Amerikanerinnen, die haben ein Hi-Tech-Boot, sag ich dir, mit allem Komfort und jeder Menge Elektronik – das sind keine Frauen von Parteibonzen, die in einer Konservendose im Kreis rumschippern.«
Der Zweite Maat hörte nicht richtig hin. »Und was ist, wenn man es tatsächlich einmal rund um die Welt geschafft hat? Wie kann man sich daheim im Block wieder in dieSchlange am Scheißhaus stellen, nachdem man mal in Amerika war? Vielleicht hat die Hirse ja in einem anderen Land besser geschmeckt, und die Lautsprecher haben nicht so gescheppert. Auf einmal riecht das Trinkwasser zu Hause komisch – was macht man dann?«
Jun Do gab keine Antwort.
Der Mond ging auf. Über sich sahen sie ein Flugzeug, das in Japan gestartet war und gerade einen großen Bogen schlug, um den nordkoreanischen Luftraum zu umgehen.
Nach einer Weile sagte der Zweite Maat: »Wahrscheinlich werden sie von Haien gefressen.« Er schnippte die Zigarettenkippe weg. »Und, was soll das alles? Warum richten wir die Antenne aufs Wasser? Was ist da unten?«
Jun Do wusste nicht genau, wie er darauf antworten sollte. »Eine Stimme.«
»Im Meer? Und was sagt die, die Stimme?«
»Manche Stimmen klingen amerikanisch, eine nach einem Russen, der Englisch spricht. Einmal hab ich einen Japaner
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