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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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erwiderte Jun Do. »Aber die Leute rufen nicht mehr per Funk um Hilfe. Die haben jetzt Satelliten-Notrufbaken, Dinger, mit denen die GPS-Koordinaten automatisch an die Satelliten gefunkt werden. Davon bekomme ich nichts mit. Der Steuermann hat recht – wahrscheinlich ist ein Container irgendwo von Bord gerutscht, und den Inhalt hat es hier angespült.«
    »Und wir reagieren nicht auf SOS-Rufe?« Der Zweite Maat ließ nicht locker.
    »Nicht, solange er an Bord ist«, sagte der Kapitän und drückte Jun Do den Schuh in die Hand. »Los geht’s, meine Herrn. Rein ins Wasser mit den Netzen. Es wird eine lange Nacht.«
    Jun Do fand einen Radiosender aus Wladiwostok und ließ das Programm über einen Decklautsprecher laufen. Sie spielten Strauss. Die Männer fingen an, das schwarze Wasser zu durchkämmen, und hatten kaum Zeit zum Bewundern der vielen amerikanischen Schuhe, die sich an Deck auftürmten.
    Während die Besatzung oben Turnschuhe fischte, stülpte Jun Do sich die Kopfhörer über. Es war viel Quäken und Zwitschern zu hören, das mit Sicherheit jemanden glücklichmachen würde. Die chinesischen Geständnisse direkt nach Sonnenuntergang hatte er verpasst, was auch besser war, weil die Stimmen immer hoffnungslos traurig und deswegen in seinen Ohren schuldbeladen klangen. Die Familien aus Okinawa bekam er noch mit, die an ihre Väter auf den amerikanischen Schiffen appellierten. Es fiel ihm jedoch schwer, allzu viel Mitleid mit Kindern zu haben, die Mütter und Geschwister hatten, und wenn er das zuckersüße Flehen »Nehmt uns mit!« hörte, wurde ihm geradezu schlecht. Wenn eine russische Familie ihren einsitzenden Vater mit ununterbrochen guter Laune aufmunterte, sollte das dem Mann Kraft geben. Aber einen abtrünnigen Vater anbetteln, zu seinem Kind zurückzukehren? Wer würde denn auf so etwas hereinfallen? Wer würde so ein jämmerliches Kind schon haben wollen?
    Jun Do schlief vor seiner Anlage ein, was selten vorkam. Er erwachte zur Stimme des Mädchens, das im Dunkeln ruderte. Sie rudere jetzt nackt, sagte sie, unter einem Himmel, »der schwarz gerüscht ist, wie eine Nelke, die mit dem Stiel in Tinte steht.« Sie hatte eine Vision gehabt: Eines Tages würden die Menschen ins Meer zurückkehren, Flossen und Blaslöcher würden ihnen wachsen, im Ozean würde sich die Menschheit endlich vereinen, und Hass und Krieg hätten ein Ende. Armes Mädchen, mach mal nen Tag Pause , dachte er, und beschloss, dem Zweiten Maat diesmal nichts von ihren Worten zu erzählen.
    *
    Am Morgen hatte die Junma wieder Fahrt gen Süden aufgenommen, die Wadennetze waren voller Schuhe und schwangen unter der leichten Last wild hin und her. Auch auf Deck lagen Hunderte von Schuhen, die der Erste und Zweite Maatgrob nach Design geordnet zusammenknoteten. Von Mast zu Mast zogen sich diese Girlanden und trockneten in der Sonne. Passende Paare hatten sie offenbar nur wenige gefunden. Trotzdem schienen alle bester Laune zu sein, obwohl sie nicht geschlafen hatten.
    Der Erste Maat fand ein Paar, blau und weiß, und verstaute es unter seiner Koje. Der Steuermann staunte über eine Schuhgröße fünfzig – was für ein Riese wohl solche Schuhe tragen mochte? –, und der Maschinist hatte einen großen Stapel aufgehäuft, den seine Frau durchprobieren sollte. Das Silber und das Rot, die schicken Aufnäher und reflektierenden Streifen, das grelle Weiß, für sie war das alles das reinste Gold: Diese Schuhe waren gleichbedeutend mit Nahrungsmitteln, Bestechungsgeldern und Geschenken. Das Gefühl, wenn man sie anhatte – als ob man nichts an den Füßen trüge. Die Schuhe ließen die Socken der Männer schrecklich abgetragen wirken, und zwischen so viel leuchtender Farbe sahen ihre Beine fleckig und stumpf aus. Der Zweite Maat wühlte sich durch den gesamten Haufen, bis er das gefunden hatte, was er seine »Amerikaschuhe« nannte. Es waren Damenschuhe, der eine rot-weiß, der andere blau. Seine eigenen Schuhe warf er über Bord, dann stolzierte er mit zwei verschiedenen Nikes an den Füßen auf dem Deck herum.
    Vor ihnen hatte sich eine große Wolkenbank gebildet, die von einem wirbelnden Schwarm Möwen angeführt wurde. Im Osten stieg eisiges Kaltwasser aus dem Tiefseegraben an die Oberfläche und ließ die Feuchtigkeit in der Luft kondensieren. Dort in der Tiefsee jagten die Pottwale, dort waren die Sechskiemenhaie zu Hause. Zusammen mit dem eiskalten Wasser stiegen schwarze Quallen, Kraken und weiße, blinde Tiefseegarnelen an die

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