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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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ruhigzuhalten. Auch wenn er oft beim Entleeren der Netze zugesehen hatte, hatte er es noch nie selbst gemacht. Er fand die Leine, mit der das Netz unten geöffnet wurde, und versuchte, den Moment abzupassen, da das Netz über die Fässer schwenkte. Er hatte erwartet, dass der Fang mit einem Mal herausplatzen würde, doch als er an der Strippe zog, ergossen sich die Garnelen erst ins Fass und mit dem nächsten Schwanken übers ganze Deck, über die Luken und schließlich über seine Stiefel.
    »Wusste ich’s doch, dass du kein Fischer bist«, sagte Pak. »Da braucht man nur deine Gesichtsfarbe und deine Hände anzugucken. Zieh das Hemd aus«, verlangte er.
    »Hier gebe ich die Befehle«, entgegnete der Kapitän.
    »Zieh das Hemd aus, du elender Spion, sonst lass ich dich von den Amerikanern ausziehen.«
    Nur ein paar Knöpfe waren nötig, dann hatte Pak gesehen, dass Jun Do keine Tätowierung auf der Brust trug.
    »Ich bin nicht verheiratet«, sagte Jun Do.
    »Du bist nicht verheiratet«, wiederholte Pak.
    »Sie hören es doch«, sagte der Kapitän.
    »Die Nordkoreaner würden dich niemals raus aufs Wasser lassen, wenn du nicht verheiratet wärst. Wen sollten sie denn dann ins Gefängnis werfen, wenn du überläufst?«
    »Was soll das?«, mischte sich der Steuermann ein. »Wir sind Fischer auf dem Weg zurück in den Hafen. Mehr gibt’s nicht zu sagen.«
    Pak wandte sich an den Zweiten Maat. »Wie heißt der?«, fragte er, wobei er auf Jun Do zeigte.
    Der Zweite Maat sagte nichts, sondern sah den Kapitän fragend an.
    »Guck nicht ihn an«, kommandierte Pak und trat einen Schritt näher. »Welchen Posten hat der hier?«
    »Posten?«
    »Auf dem Schiff«, sagte Pak. »Na schön. Welchen Posten hast du ?«
    »Zweiter Maat.«
    »Na schön, Zweiter Maat«, sagte Pak. Er zeigte wieder auf Jun Do. »Der Namenlose da. Was für einen Posten hat der?«
    Der Zweite Maat sagte: »Dritter Maat.«
    Pak fing an zu lachen. »Ah ja, der dritte Maat. Das ist ja herrlich. Ich schreibe einen schönen Spionageroman und nenne ihn Der dritte Maat . Ihr elenden Spione, mir wird wirklich schlecht, wenn ich euch sehe. Das hier sind freie Staaten, gegen die ihr Spionage betreibt, Demokratien, die ihr zu unterhöhlen versucht!«
    Mehrere der Amerikaner kamen zurück an Deck. Sie hatten Rußflecken im Gesicht und an den Schultern, weil sie sich durch die engen, angekohlten Gänge gezwängt hatten. Jetzt, wo das Schiff gesichert war, hatten sie die Gewehre wieder locker über die Schulter gehängt und witzelten miteinander. Es war verblüffend, wie jung sie waren: Das riesige Kriegsschiff in der Hand von Halbwüchsigen. Erst jetzt schienen sie die Schuhberge zu bemerken. Einer der Soldaten nahm einen Sneaker in die Hand. »Ich glaub’s nicht«, sagte er. »Das sind die neuen Air Jordans – die kriegst du nicht mal in Okinawa.«
    »Das genügt als Beweis«, sagte Pak. »Diese Typen hier sind allesamt Spione, Piraten und Banditen und werden jetzt auf der Stelle verhaftet.«
    Der Soldat mit dem Turnschuh sah die Fischer bewundernd an. Er sagte: »Smokey, smokey?«, und bot ringsum Zigaretten an. Nur Jun Do ging darauf ein, eine Marlboro, stark und kräftig. Eine grinsende Cruise Missile mit einem muskelstrotzenden Bizeps als Flügel zierte das Feuerzeug. »Junge, Junge. Die Nordkoreaner werden echt immer krimineller.«
    Die anderen beiden Soldaten schüttelten den Kopf über den Zustand des Schiffs, besonders über die weggerosteten Klampen für die Rettungsleinen. »Spione?«, meinte einer von ihnen ungläubig. »Die haben noch nicht mal Radar. Die navigieren mit einem Scheißkompass. Im Kartenraum gibt’s keine Karten. Die steuern den Seelenverkäufer hier rein nach Gefühl.«
    »Ihr ahnt nicht, wie raffiniert die Nordkoreaner sind«, hielt Pak dagegen. »Ihre gesamte Gesellschaft beruht auf Täuschung. Wartet’s nur ab, wenn wir dieses Boot auseinandernehmen, dann seht ihr, dass ich recht habe.« Er bückte sich und öffnete die Luke zum vorderen Laderaum. Tausende kleiner Makrelen, die lebendig eingefroren worden waren, starrten ihm mit offenen Mäulern entgegen.
    Auf einmal wusste Jun Do, dass sie über seine Geräte lachen würden, dass sie sie ans Tageslicht zerren und sich lauthals darüber amüsieren würden, wie notdürftig das alles zusammengebastelt war. Und dann würde er nie wieder eine erotische Geschichte von Dr. Rendezvous hören, nie herausfinden, ob die russischen Häftlinge begnadigt wurden, es würde ein ewiges Rätsel

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