Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
versteinert da.
Pak geriet sofort in Aufregung. »Nein, nein, nein!«, schrieer. »Das ist eine ernste Angelegenheit. Das müssen Sie augenblicklich zurückhängen!«
Der Soldat dachte gar nicht daran. »Sie haben selbst gesagt, das wären verdammte Spione. Gefunden ist gefunden, oder etwa nicht, Lieutenant Jervis?«
Lieutenant Jervis versuchte die Situation zu entschärfen. »Jetzt lassen Sie den Jungs doch ein paar Andenken«, sagte er.
»Das ist kein Witz«, sagte Pak. »Die Leute werden wegen so was ins Gefängnis geworfen oder schlimmeres.«
Ein weiterer Marinesoldat kam aus dem Steuerhaus; er hatte das Porträt von Kim Il Sung von der Wand montiert. »Ich hab seinen Bruder«, verkündete er.
Pak streckte ihnen die Handflächen entgegen. »Halt«, rief er. »Sie verstehen mich nicht. Mit so was schicken Sie diese Männer ins Grab. Sie gehören festgenommen und verhört, nicht zum Tode verurteilt.«
»Guckt mal, was ich gefunden hab!«, verkündete ein anderer. Er kam mit der Kapitänsmütze auf dem Kopf aus dem Steuerhaus, und mit zwei schnellen Schritten hatte der Zweite Maat sein Haimesser gezogen und dem Matrosen an die Kehle gesetzt.
Ein halbes Dutzend Sturmgewehre wurde von Schultern gerissen und entsichert. Oben, an Bord der Fregatte, erstarrten die Marinesoldaten mit ihren Kaffeetassen in der Hand. In der Totenstille war das vertraute Klirren der Takelage zu hören und das Wasser, das aus dem Lebendbecken schwappte. Jun Do spürte, wie die Junma in den vom Bug der Fregatte zurückgeworfenen Wellen zweifach schwankte.
Vollkommen ruhig sagte der Kapitän zum Zweiten Maat: »Es ist doch nur eine Mütze, Sohn.«
Der Zweite Maat antwortete dem Kapitän, ohne den Soldaten auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Mankann nicht einfach um die Welt schippern und machen, was einem gerade passt. Es gibt Regeln, und die sind einzuhalten. Man kann nicht einfach Leuten die Mütze klauen.«
Jun Do sagte zu ihm: »Jetzt lass den Kerl los.«
»Ich weiß, wo die Grenze ist«, entgegnete der Zweite Maat. »Ich hab sie nicht überschritten – die waren’s. Jemand muss sie stoppen und ihnen diese Ideen austreiben.«
Jervis hatte seine Waffe ebenfalls gezogen. »Pak«, sagte er. »Bitte erklären Sie diesem Mann auf Koreanisch, dass er gleich erschossen wird.«
Jun Do trat vor. Der Blick des Zweiten Maats war kalt und flackerte unsicher, und der Soldat sah Jun Do hilfesuchend an. Vorsichtig nahm Jun Do dem Amerikaner die Mütze vom Kopf und legte dem Zweiten Maat die Hand auf die Schulter. Der Zweite Maat sagte: »Manche Leute muss man vor ihrer eigenen Dummheit schützen«, dann trat er zurück und warf sein Messer ins Meer.
Die Gewehre im Anschlag, blickten die Marinesoldaten aus dem Augenwinkel in Richtung Jervis. Der ging auf Jun Do zu. »Bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie Ihren Mann zur Räson gerufen haben«, sagte er und steckte Jun Do beim Händeschütteln seine Visitenkarte zu: »Falls Sie mal in der freien Welt sind.« Er ließ einen letzten langen Blick über die Junma schweifen. »Hier ist nichts«, rief er. »Wenn ich zum geordneten Rückzug bitten dürfte, meine Herren.«
Es wirkte fast wie ein Ballett: Gewehr – ab, Gewehr – über, Kehrt – marsch, Rechts – um, Gewehr – anlegen – die acht schweigenden Amerikaner zogen sich so von der Junma zurück, dass zu keinem Zeitpunkt weniger als sieben Gewehre auf die Mannschaft gerichtet waren.
Kaum hatte die amerikanische Barkasse abgelegt, sprang der Steuermann ans Ruder und drehte bei, und schon verwischte Nebel die Kanten des grauen Fregattenrumpfs. Jun Do schloss die Augen halb und versuchte in das Schiff hineinzublicken, sich die Kommandobrücke und die technischen Geräte dort oben vorzustellen, die alles belauschten und alles, was irgendwo auf der Welt gesprochen wurde, hören konnten. Er blickte auf das Kärtchen in seiner Hand. Es war gar keine Fregatte, sondern ein Kreuzer, die USS Fortitude , und dann merkte er, dass es auf seinen Stiefeln nur so vor Garnelen zappelte.
*
Obwohl sie kaum noch Treibstoff hatten, ordnete der Kapitän Kurs nach Westen an, und die Mannschaft konnte nur hoffen, dass er die Sicherheit nordkoreanischer Gewässer ansteuerte und keine flache Bucht, in der er die entehrte Junma versenken wollte. Vor dem Wind nahmen sie ordentlich Fahrt auf; als Land in Sicht kam, fühlten sie sich seltsam, so ohne gehisste Flagge. Der Steuermann am Ruder starrte immer wieder auf die beiden weißen Flecken an der
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