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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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sahen sie aus, als wären sie einmal durch die Winde der Junma gemangelt worden. Nach Jun Dos Befragung nahmen der ältere Herr und der Journalist den Zweiten Maat beiseite, um sich die Geschichte bestätigen zu lassen und weitere Aussagen aus erster Hand zu bekommen.
    Bei Einbruch der Dunkelheit ging Jun Do über die Fischkarrenpfade, die zur neuen Konservenfabrik führten. Die alte Konservenfabrik hatte eine schlechte Partie Konservenbüchsen produziert, sodass viele Bürger an Lebensmittelvergiftung gestorben waren. Da sich die Ursache des Problems nicht ausmachen ließ, war neben der alten eine neue Konservenfabrik errichtet worden. Jun Do ging an den Fischkuttern und der vertäuten Junma vorbei, die von Männern in sauberen Oberhemden entladen wurde. Bürokraten in Ch'ŏngjin, die der weniger als hundertfünfzigprozentigen Gehorsamkeit überführt wurden, mussten ein paar Wochen lang Dienst an der Revolution leisten, mussten beispielsweise bei Tag und Nacht in Wŏnsan oder Kinjye Fisch entladen, von Hand natürlich.
    Jun Do wohnte im Haus des Konservenfabrikdirektors, ein großes, schönes Haus, in dem wegen der Geschichte mit dem Fabrikdirektor und seiner Familie niemand wohnen wollte. Jun Do benutzte nur einen Raum, die Küche, denn darin hatte er alles, was er brauchte: Eine Lampe, ein Fenster, einen Tisch, den Herd und eine Pritsche, die er dort aufgeschlagen hatte. Er war nur ein paar Tage im Monat an Land, und sollte es hier Gespenster geben, so störten sie ihn jedenfalls nicht.
    Auf dem Tisch war der Sender aufgebaut, an dem er bastelte. Wenn er nur Kurztelegramme sendete wie die Amerikaner am Grunde des Meeres, dann könnte er ihn vielleicht unentdeckt benutzen. Doch je näher die Fertigstellung rückte, desto langsamer arbeitete er: Was sollte er bloß senden? Sollte er von dem Marinesoldaten berichten, der »Smokey, smokey« gesagt hatte? Vielleicht erzählte er der Welt vom Gesichtsausdruck des Kapitäns, als sie an den breiten, menschenleeren Stränden von Wŏnsan entlang nach Süden getuckert waren – allen Bürokraten in Pjöngjang wurde versprochen, dass sie ihren Ruhestand an diesen paradiesischen Stränden verbringen würden.
    Jun Do machte sich eine Tasse Tee und rasierte sich zum ersten Mal seit drei Wochen. Aus dem Fenster sah er, wie die Männer die Junma im Dunkeln entluden, Männer, die garantiert beteten, dass der Strom endlich abgeschaltet wurde und sie sich auf ihre Pritschen legen konnten. Als erstes schabte er den Schaum um seinen Mund weg. Dann ließ er seinen halb getrunkenen Tee stehen und nippte stattdessen an einem chinesischen Whiskey. Als er das Rasiermesser abzog, machte es ein Geräusch wie auf Haifischhaut. Es war aufregend gewesen, dem Journalisten den Bären aufzubinden, und verblüffend, wie recht der Kapitän gehabt hatte: Der Journalist wollte noch nicht einmal wissen, wie er hieß.
    Später in der Nacht, als der Strom ausgeschaltet und der Mond untergegangen war, stieg Jun Do im Finstern aufs Dach und tastete sich zum Schornstein vor. Er wollte eine Antenne anbringen, die er vom Schornstein mit einem Seilzug aufrichten konnte. In dieser Nacht verlegte er lediglich ein Kabel, aber selbst das war nur im Schutz vollständiger Dunkelheit möglich. Er hörte das Meer dort draußen, spürte die Seeluft in seinem Gesicht. Und doch sah er von seinem luftigen Sitz auf der Dachschräge absolut nichts. Er hatte das offene Meer bei Tag unzählige Male gesehen, unter seinen Füßen gespürt. Was würde jemand, der das Meer nicht kannte, in der unfassbar großen Dunkelheit vor sich vermuten? Die flossenlosen Haie wussten wenigstens, was unter der Wasseroberfläche lag – sie wussten, wohin sie abstiegen.
    Die Fabriksirenen im Morgengrauen waren für Jun Do gewöhnlich das Signal, ins Bett zu gehen. Der Lautsprecher räusperte sich und plärrte los.
    »Guten Morgen, Bürger!«, fing er an.
    Es klopfte an der Tür; als Jun Do hinging, stand der Zweite Maat vor ihm. Der Junge war ziemlich betrunken und übel zugerichtet.
    »Hast du’s schon gehört?«, fragte der Zweite Maat. »Ich bin zum Helden der Ewigen Revolution erklärt worden – Medaillen und später einmal Heldenrente.«
    Das Ohr des Zweiten Maats war eingerissen, und sie mussten zum Kapitän, damit der ihn nähte. Das gesamte Gesicht des Jungen war zugeschwollen, mehrere Beulen ragten leuchtend hervor. An seine Brust war eine Medaille geheftet, der Purpurrote Stern. »Hast du Schlangenschnaps da?«, fragte er.
    »Wie

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