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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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fehlenden Arm. Aber wo ist das Ding – im Müll? Verbrannt? Er weiß, dass er irgendwo ist, spürt ihn, hat aber keine Gewalt über ihn.«
    »Meiner Meinung nach«, sagte Jun Do, »ist das große Missverständnis in Bezug auf Gespenster, dass jeder sie für tot hält. Für mich sind die Gespenster die Lebenden, die irgendwo sind, die man aber nie zu fassen bekommt.«
    »So wie die Frau vom Kapitän?«
    »So wie die Frau vom Kapitän.«
    »Ich kenne sie nicht«, sagte der Zweite Maat. »Aber wenn man ihr Gesicht auf dem Kapitän sieht, dann fragt man sich doch jedes Mal, wo und bei wem sie ist und ob sie noch an unsern Kapitän denkt.«
    Jun Do erhob sein Bier auf diese weise Einsicht.
    »Oder wie deine Amerikaner auf dem Meeresboden«, sagte der Zweite Maat. »Du hörst, wie sie da unten zugange sind, du weißt, dass sie irgendwie wichtig sind, aber du kommst einfach nicht an sie ran. Das passt irgendwie zu dir, das passt genau zu deiner Geschichte.«
    »Zu meiner Geschichte? Wie meinst du das?«
    »Ach, nichts. Nur was, was der Kapitän mal gesagt hat.« »Was denn?«
    »Na ja, dass du ein Waisenkind bist und dass Waisen immer Dingen hinterherjagen, die sie niemals kriegen können.«
    »Wirklich? Und er hat ganz sicher nicht etwa gesagt, dass Waisen immer versuchen, anderen ihr Leben zu stehlen?«
    »Jetzt reg dich nicht auf. Der Kapitän hat nur gesagt, ich soll mich nicht zu sehr mit dir anfreunden.«
    »Oder dass Waisen andere Leute mit in den Tod nehmen, wenn sie sterben? Oder dass es immer einen Grund gibt, warum jemand Waise wird? Die Leute sagen alles Mögliche über Waisenkinder, weißt du.«
    Der Zweite Maat hielt eine Hand beschwichtigend hoch. »Der Kapitän hat nur gesagt, dass du nie gelernt hast, was Loyalität ist.«
    »Was weißt du denn schon? Und falls es dich interessiert, ich bin noch nicht mal Waise.«
    »Das hat er mir gesagt, dass du das behauptest. Er will ja nicht gemein sein oder so«, sagte der Zweite Maat. »Er hat nur gesagt, dass die Waisen beim Militär eine Spezialausbildung bekommen, damit sie nichts empfinden, wenn anderen etwas Schlimmes zustößt.«
    Die ersten Sonnenstrahlen glühten auf den Fischerbooten. Die junge Frau draußen musste jedes Mal zur Seite treten, wenn ein zweirädriger Fischkarren vorbeikam.
    Jun Do sagte: »Warum bist du eigentlich hier? Was willst du von mir?«
    »Hab ich dir doch gesagt«, antwortete er. »Ich wollte dir meine Frau zeigen – sie ist wunderschön, findest du nicht?«
    Jun Do starrte ihn nur an.
    Der Zweite Maat redete unbeirrt weiter. »Natürlich ist sie schön. Sie ist wie ein Magnet, man kann ihrer Schönheit nicht widerstehen. Mein Tattoo zeigt sie nicht von ihrer besten Seite. Und wir haben schon praktisch eine Familie. Jetzt bin ich ein Held, klar, und irgendwann werde ich Kapitän. Ich sage nur, ich bin jemand, der viel zu verlieren hat.« Der Zweite Maat machte eine Pause und legte sich seine Worte zurecht: »Aber du, du hast niemanden. Du schläfst auf einerPritsche in der Küche im Haus eines Ungeheuers.« Die Frau draußen bedeutete ihm, dass er kommen sollte, aber er winkte ab. »Wenn du dem Amerikaner eins in die Fresse gehauen hättest«, sagte er, »dann wärst du jetzt in Seoul, in Freiheit. Das kapiere ich einfach nicht. Wenn jemand nichts hat, das ihn hält, was hindert ihn dann daran?«
    Wie sollte er dem Zweiten Maat erklären, dass man seine Gespenster nur abschütteln konnte, wenn man sie gefunden hatte? Und das konnte Jun Do nur hier. Wie sollte er den wiederkehrenden Traum erklären, in dem er Radio hört und Schnipsel von wichtigen Nachrichten empfängt, von seiner Mutter, von anderen Jungen aus dem Waisenhaus? Es ist schwierig, den Sender richtig einzustellen, und er ist schon mit der Hand am Bettpfosten aufgewacht, als sei der das Rädchen am UKW-Empfänger. Manchmal sind es auch Botschaften von Leuten, die mit Menschen geredet haben, die seine Mutter gesehen haben. Seine Mutter will ihm unbedingt eine Nachricht übermitteln. Sie will ihm sagen, wo sie ist, will erklären, warum, sie wiederholt ihren Namen, immer wieder, aber er kann ihn nie richtig verstehen. Wie soll er ihm klarmachen, dass diese Botschaften in Seoul ganz sicher aufhören würden.
    »Na komm«, sagte Jun Do. »Gehen wir zum Kapitän, der flickt dich wieder zusammen.«
    »Du machst wohl Witze. Ich bin ein Held, ich darf ins Krankenhaus.«
    *
    Als die Junma wieder auslief, waren neue Bildnisse des Großen und des Geliebten Führers Kim Il Sung und

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