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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Kim Jong Il an Bord. In der Kombüse gab es einen neuen Tisch, und eineneue Kloschüssel gab es auch, weil Helden nicht in Eimer kacken müssen, auch wenn die Helden Nordkoreas viel Schlimmeres klaglos ertragen haben. Auch ihre DVRK-Flagge hatten sie ersetzt bekommen. Elf Kilometer vom Ufer holten sie sie ein.
    Der Kapitän war bester Laune. An Deck befand sich nun eine Truhe, und er rief, einen Fuß darauf gestellt, die Mannschaft zusammen. Als Erstes holte er eine Handgranate heraus. »Das habe ich für den Fall gekriegt, dass die Amerikaner zurückkommen«, sagte er. »Die soll ich am Achterdeck in den Laderaum fallen lassen und unsere liebe Junma versenken.«
    Jun Do riss die Augen auf. »Und warum nicht in den Maschinenraum?«
    Der Maschinist sah ihn an, als ob er ihn umbringen wollte.
    Der Kapitän warf die Handgranate ins Meer, wo sie ohne das geringste Geräusch unterging. An Jun Do gewandt sagte er: »Keine Bange, ich hätte vorher angeklopft.« Damit trat der Kapitän die Truhe auf, und zum Vorschein kam eine aufblasbare Rettungsinsel, die ganz offensichtlich aus einem alten sowjetischen Passagierflugzeug stammte. Sie war mal orange gewesen, mittlerweile aber zu einem stumpfen Pfirsichgelb ausgebleicht, und neben dem roten Griff stand die bedrohlich klingende Warnung, beim Aufblasen dürfe nicht geraucht werden. »Mir wurde der Befehl erteilt, das hier zum Einsatz zu bringen, wenn die Granate explodiert ist und unser Schiff in den Wellen versinkt, damit wir auch ja nicht unseren höchsteigenen Helden verlieren. Ich brauche euch nicht zu sagen, von welch großem Vertrauen dieses Geschenk zeugt.«
    Der Zweite Maat trat vor, um sich die kyrillischen Schriftzeichen anzusehen, fast, als habe er Angst vor dem Ding. »Sie ist größer als die andere«, staunte er.
    »In diese Rettungsinsel passt eine ganze FlugzeugladungLeute«, klärte der Maschinist ihn auf. »Oder ein einziger großer Held.«
    »Genau«, fiel der Erste Maat ein. »Mir wäre es natürlich eine Ehre, neben dem Schlauchboot Wasser zu treten, in dem sich ein wahrer Held der Ewigen Revolution befindet.«
    Aber der Kapitän war noch nicht fertig. »Außerdem wird es Zeit, den Dritten Maat zum offiziellen Mitglied der Besatzung zu machen.« Er zog ein zusammengefaltetes Stück Wachspapier aus der Tasche. Neun dünne, durch Ausbrennen sterilisierte Nähnadeln waren darin. Die Nadelspitzen waren schwarz von vielen Tätowierungen. »Ich bin kein Russe«, erläuterte er Jun Do, »aber wie du gleich sehen wirst, bin ich mittlerweile ziemlich gut. Hier brauchen wir uns noch nicht mal Sorgen zu machen, dass die Tinte einfriert.«
    Jun Do musste sich auf den Küchentisch setzen und das Hemd ausziehen. Als der Steuermann Jun Dos nackte Brust sah, sagte er: »Ah, eine Jungfrau«, und alle lachten.
    »Ich weiß ja nicht«, sagte Jun Do. »Ich bin nicht mal verheiratet.«
    »Macht nichts«, sagte der Kapitän. »Du kriegst jetzt die schönste Frau der Welt.«
    Steuermann und Erster Maat blätterten den Kalender der Filmdiva Sun Moon durch, während der Kapitän in einem Löffel die pulverförmige Tinte mit ein paar Tropfen Wasser anrührte, bis sie eine zähflüssige Paste war. Der Kalender hing zwar schon ewig im Steuerhaus, aber Jun Do hatte sich eigentlich nie dafür interessiert, weil er ihn an das erinnerte, was aus den Lautsprechern kam. In seinem ganzen Leben hatte er bisher nur ein paar chinesische Kriegsfilme gesehen, die seinem Regiment bei schlechtem Wetter vorgeführt worden waren. Irgendwo mussten auch Plakate für Filme mit Sun Moon gehangen haben, aber sie hatten nichts mit ihm zutun gehabt. Als er dem Ersten Maat und dem Steuermann jetzt zusah, wie sie den Kalender durchblätterten und darüber diskutierten, welches Foto Sun Moons Gesichtsausdruck für eine Tätowierung am besten eingefangen hatte, beneidete er die beiden darum, wie gut sie sich an berühmte Szenen und Worte der nordkoreanischen Volksschauspielerin erinnerten. In Sun Moons Blick lagen Nachdenklichkeit und Traurigkeit, und die feinen Fältchen um ihre Augen ließen erkennen, dass sie auch herben Verlusten entschlossen getrotzt hatte. Nur mit größter Anstrengung konnte Jun Do den Gedanken an Rumina beiseite schieben. Plötzlich erschien ihm die Vorstellung eines Porträts, eines Menschen, den er für immer über dem Herzen tragen würde, unwiderstehlich. Warum ließen wir eigentlich nicht jeden, der uns wichtig war, für immer in unsere Haut tätowieren? Dann fiel Jun Do wieder

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