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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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wär’s, wenn wir auf Bier umsteigen?«, erwiderte Jun Do und ließ zwei Flaschen Ryoksong zischen.
    »Das gefällt mir an dir – du hast kein Problem damit, morgens einen zu heben. Wie sagt man so schön? Je länger die Nacht, desto kürzer der Morgen. «
    Als der Zweite Maat die Flasche ansetzte, sah Jun Do, dass seine Fingerknöchel unverletzt waren. Er sagte: »Sieht so aus, als hättest du heute Nacht ein paar neue Freunde gefunden.«
    »Ich sag’s dir, Mann«, antwortete der Zweite Maat. »Heldentaten begehen ist einfach – ein Held zu werden ist die Hölle.«
    »Na, dann lass uns auf die Heldentaten trinken.«
    »Und auf die Belohnung«, fügte der Zweite Maat hinzu. »Apropos Belohnung: Du musst dir unbedingt meine Frau angucken – das glaubst du nie, wie schön die ist.«
    »Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen«, erwiderte Jun Do.
    »Nein, nein«, wehrte der Zweite Maat ab. Er trat ans Fenster und zeigte auf eine Frau, die allein in der Fischkarrengasse stand. »Da, guck sie dir an. Ist sie nicht Wahnsinn? Sag selbst, die ist Wahnsinn.«
    Jun Do spähte zum Fenster hinaus. Die junge Frau hatte feuchte, weit auseinanderstehende Augen. Jun Do kannte den Ausdruck auf ihrem Gesicht: Als wolle sie unbedingt adoptiert werden, aber nicht von den Eltern, die an diesem Tag zu Besuch kamen.
    »Gib’s doch zu, sie ist der Wahnsinn«, wiederholte der Zweite Maat. »Zeig mir eine schönere Frau.«
    »Ich geb’s zu«, sagte Jun Do. »Sie darf übrigens ruhig reinkommen.«
    »Geht nicht.« Der Zweite Maat ließ sich zurück auf den Stuhl fallen. »Sie weigert sich, den Schuppen hier zu betreten. Sie hat Angst vor Gespenstern. Nächstes Jahr mache ich ihr ein Kind – dann wird ihr Busen groß und prall mit Milch. Ich kann sie aber näher ranrufen, wenn du einen genaueren Blick auf sie werfen willst. Vielleicht lass ich sie singen. Du fällst aus dem Fenster, wenn du das hörst.«
    Jun Do trank sein Bier. »Lass sie das Lied von den wahren Helden singen – denen, die keine Belohnung wollen.«
    »Mann, du hast echt einen seltsamen Humor«, sagte der Zweite Maat und drückte die kalte Bierflasche gegen seine Rippen. »Wusstest du schon, dass die Kinder von Helden auf Eliteschulen gehen dürfen? Vielleicht lege ich mir eine Riesenbrut zu und wohne in einem Haus wie dem hier. Vielleicht ziehe ich ja hier ein.«
    »Nur zu«, erwiderte Jun Do. »Sieht allerdings nicht so aus, als ob deine Frau da mitmacht.«
    »Sie ist noch ein Kind«, sagte er. »Sie macht, was ich ihr sage. Ehrlich, ich ruf sie rein. Die macht, was ich ihr sage, glaub’s mir.«
    »Und du, hast du etwa keine Angst vor Gespenstern?«, fragte Jun Do.
    Der Zweite Maat sah sich um. »Zu gründlich würde ich wohl nicht darüber nachdenken wollen, wie die Kinder vom Fabrikdirektor umgekommen sind«, sagte er. »Wo ist es passiert?«
    »Oben.«
    »Im Bad?«
    »Im Kinderzimmer.«
    Der Zweite Maat lehnte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke. Einen Augenblick lang glaubte Jun Do, er sei eingeschlafen. Dann regte er sich wieder. »Kinder«, sinnierte er. »Das ist doch das Wichtigste im Leben, oder? Angeblich.«
    »Angeblich«, erwiderte Jun Do. »Aber die Leute machen die unglaublichsten Dinge, um zu überleben, und wenn sie dann überlebt haben, können sie nicht mit dem leben, was sie getan haben.«
    Der Zweite Maat musste in den Neunzigern ein Kleinkind gewesen sein, ihm mussten die Jahre nach der Hungersnot also glorreich und üppig erschienen sein. Er trank einen großen Schluck. »Wenn jeder, dem es scheiße geht und der ins Gras beißt, zu einem Furz würde, dann würde die Welt doch zum Gotterbarmen stinken, oder nicht?«
    »Schon möglich.«
    »Ich glaube nicht an Gespenster. Jemandem stirbt der Kanarienvogel, dann hört er ihn im Dunkeln piepsen und denkt: Oh, das ist der Geist von meinem Vogel. Aber wenn du mich fragst, dann ist ein Geist genau das Gegenteil. Etwas, was du spüren kannst, du weißt, dass es da ist, aber du kriegst es nie zu fassen. Wie beim Kapitän von der Kwan Li . Die Ärzte mussten bei ihm amputieren. Hast du die Geschichte gehört?«
    »Nein«, antwortete Jun Do.
    »Als er im Krankenhaus aufgewacht ist, da fragt er: Wo ist mein Arm? , und der Arzt sagt: Tut uns leid, den mussten wir abnehmen , und der Kapitän sagt: Ich weiß, dass mein Arm weg ist, aber wo ist er? Aber sie sagen es ihm nicht. Er kann spüren, sagt er, wie sein Arm ohne ihn eine Faust ballt. In der Wanne spürt er das heiße Wasser an seinem

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