Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
Vom Netzwerk:
ein, dass er ja niemanden hatte, der ihm wichtig war, und deswegen bekam er auch das Tattoo einer Schauspielerin, die er noch nie gesehen hatte, aus einem Kalender im Steuerhaus eines Fischkutters.
    »Aber wenn sie doch so eine berühmte Schauspielerin ist«, wandte Jun Do ein, »wird sie jeder in Nordkorea erkennen und sofort wissen, dass sie gar nicht meine Frau ist.«
    »Die Tätowierung«, erwiderte der Kapitän, »ist für die Amerikaner und die Südkoreaner. Für die ist es ein Frauengesicht wie jedes andere.«
    »Jetzt mal ganz im Ernst«, sagte Jun Do. »Ich weiß nicht mal, warum ihr das überhaupt macht. Wozu tragt ihr das Gesicht von euren Frauen auf der Brust?«
    Der Zweite Maat antwortete: »Na, weil wir Fischer sind.«
    »So kann deine Leiche identifiziert werden«, sagte der Steuermann.
    Der stille Maschinist sagte: »So hast du sie immer vor Augen, wenn du an sie denkst.«
    »Das klingt ja schrecklich romantisch«, entgegnete der Erste Maat. »Die Tätowierungen sind nur dazu da, damit den Damen keine grauen Haare wachsen. Sie glauben, dass keine Frau mit jemandem schläft, der so eine Tätowierung hat, aber das heißt gar nichts, Mädchen finden sich immer.«
    »Es gibt nur einen einzigen Grund«, beendete der Kapitän die Diskussion. »Weil sie dadurch für immer einen Platz in deinem Herz hat.«
    Jun Do dachte darüber nach. Ihm drängte sich eine naive Frage auf, die den anderen verraten würde, dass er noch nie geliebt hatte. »Bekommt Sun Moon jetzt für immer einen Platz in meinem Herzen?«, wollte er wissen.
    »Ach, unser unschuldiger Dritter Maat«, sagte der Kapitän und grinste die anderen an. »Sie ist eine Schauspielerin. Das ist nicht wirklich sie in ihren Filmen. Das sind nur Figuren, die sie spielt.«
    Jun Do sagte: »Ich habe noch nie einen Film mit ihr gesehen.«
    »Na dann«, meinte der Kapitän. »Dann brauchst du dir ja keine Gedanken zu machen.«
    »Und was für ein komischer Name ist das, Sun Moon?«, fragte Jun Do.
    »Wahrscheinlich, weil sie berühmt ist«, sagte der Kapitän. »Vielleicht haben ja alle Yangbans in Pjöngjang seltsame Namen.«
    Sie wählten ein Bild aus Nieder mit den Tyrannen . Es war eine Porträtaufnahme, auf der Sun Moon nicht pflichtbewusst einer imperialistischen Armee entgegenstarrte oder den Blick ratsuchend zum heiligen Berg Paektu erhob, sondern den Betrachter voller Trauer um all das ansah, was sie beide verlieren würden, noch bevor schließlich der Abspann lief.
    Der Steuermann hielt den Kalender, und der Kapitän begann mit den Augen. Er hatte eine gute Technik – er stach die Nadel schräg ein und zog sie mit einem leichten Seitenschlag zurück, wie beim Festziehen eines Trossensteks. So tat es weniger weh, und die Nadelspitze drang flach ein und verankerte die Tinte unter der Haut. Überschüssige Farbe und Blut wischte er mit einem nassen Lappen ab.
    Während der Arbeit dachte der Kapitän laut nach. »Was sollte der Dritte Maat eigentlich über seine neue Frau wissen? Wie schön sie ist, sieht er ja selbst. Sie stammt aus Pjöngjang, einer Stadt, in die keiner von uns je kommen wird. Unser Geliebter Führer hat sie höchstpersönlich entdeckt und ihr die Hauptrolle in Eine wahre Tochter des Vaterlands gegeben, dem ersten nordkoreanischen Film überhaupt. Wie alt war sie damals?«
    »Sechzehn«, antwortete der Erste Maat.
    »Das könnte hinkommen«, sagte der Steuermann. »Wie alt bist du?«, fragte er den Zweiten Maat.
    »Zwanzig.«
    »Zwanzig«, wiederholte der Steuermann. »Der Film lief in dem Jahr, in dem du auf die Welt gekommen bist.«
    Das Schlingern des Schiffes schien den Kapitän nicht im Geringsten zu stören. »Sie war der Liebling des Geliebten Führers, und sie war unsere einzige Schauspielerin. Niemand außer ihr durfte eine Hauptrolle spielen, jahrelang ging das so. Trotz ihrer großen Schönheit, oder gerade deswegen, erlaubte der Geliebte Führer ihr nicht, zu heiraten, und all ihre Rollen waren nur gespielt, denn sie selbst hatte die Liebe nie kennengelernt.«
    »Doch dann kam Kommandant Ga«, fuhr der Maschinist fort.
    »Dann kam Kommandant Ga«, wiederholte der Kapitängeistesabwesend, ganz auf die Details konzentriert. »Genau, sie hat Kommandant Ga, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, dass Sun Moon zu tief in dein Herz eindringt.«
    Jun Do hatte natürlich schon vom Kommandanten Ga gehört – unter den Soldaten wurde er quasi als Heiliger verehrt, denn er hatte sechs Mordkommandos nach Südkorea geführt, den

Weitere Kostenlose Bücher