Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
schimmerten trockene Fischschuppen. Der Kapitän rührte mit dem Finger darin herum. »Wenn die Junma mit uns zusammen untergeht«, sagte er, »kriegen die Frauen der Maate Witwenrente, die Frau vom Maschinisten kriegt Rente, und die Frau vom Steuermann auch. Und alle bleiben am Leben.«
»Aber sie kriegen Ersatzmänner zugeteilt«, wandte der Erste Maat ein. »Ich will nicht, dass meine Kinder von irgendeinem Fremden aufgezogen werden.«
»Sie überleben«, wiederholte der Kapitän. »Sie kommen nicht ins Lager.«
»Die Amerikaner waren stinksauer«, sagte Jun Do. »Sie sind zurückgekommen und haben ihn mitgenommen.«
»Sag das noch mal«, sagte der Kapitän. Er beschattete die Augen und blickte hoch.
»Sie wollten sich rächen«, sagte Jun Do. »Und sie sind zurückgekommen, um sich den Kerl zu schnappen, der sie bezwungen hat. Sie haben unser Schiff noch einmal geentert und den Zweiten Maat entführt.«
Der Kapitän ließ sich in einer seltsamen Haltung aufs Deck sinken, fast als wäre er gerade aus der Takelage gestürzt und versuche festzustellen, was alles gebrochen war, ohne sich dabei zu bewegen. Er sagte: »Wenn Pjöngjang uns wirklich abkauft, dass ein Bürger von den Amerikanern gekidnappt worden ist, werden sie das nie auf sich beruhen lassen. Sie werden ewig darauf herumreiten, und früher oder später wird die Wahrheit ans Licht kommen. Außerdem haben wir nichts, um zu beweisen, dass die Amerikaner zurückgekommen sind – das Einzige, was uns das letzte Mal gerettet hat, waren ihre idiotischen Funksprüche.«
Jun Do zog die mit dem Siegel der U.S. Navy geprägte Visitenkarte aus der Tasche, die Jervis ihm überreicht hatte, und gab sie dem Kapitän. »Vielleicht wollten die Amerikaner ja, dass Pjöngjang ganz genau weiß, wer da gekommen ist, um uns in den Arsch zu treten. Es waren haargenau dieselben Typen wie beim letzten Mal – wir haben sie alle genau gesehen. Wir könnten im Grunde fast dieselbe Geschichte noch einmal erzählen.«
Der Maschinist spann weiter: »Wir waren gerade dabei, Langleinen auszulegen, da haben die Amerikaner uns völlig überraschend geentert. Sie haben den Zweiten Maat gepackt und verhöhnt, und dann haben sie ihn den Haien zum Fraß vorgeworfen.«
»Genau«, pflichtete der Erste Maat bei. »Wir haben das Schlauchboot zu ihm runtergeworfen, aber die Haie haben es zerfetzt.«
»Genau«, pflichtete der Steuermann bei. »Die Amerikaner standen mit gezückten Gewehren da und haben lachend zugesehen, wie unser Genosse starb.«
Der Kapitän betrachtete die Visitenkarte. Er streckte eine Hand aus, und sie halfen ihm hoch. Das wilde Funkeln war in seine Augen zurückgekehrt. »Und dann sprang einer von unserer Mannschaft ohne Rücksicht auf sein Leben hinunter ins vor Haifischen kochende Wasser, um den Zweiten Maat zu retten«, sagte er. »Er wurde fürchterlich zerbissen, aber es machte ihm nichts aus, weil er nur an die Rettung des Zweiten Maats dachte, des Helden der Demokratischen Volksrepublik Korea. Doch es war zu spät. Schon halb von den Haien verschlungen, wurde der Zweite Maat von den Wellen geschluckt. Noch mit seinen letzten Worten pries er den Geliebten Führer, und wir konnten den anderen Mann in letzter Minute blutend und halb tot aus dem Wasser ziehen.«
Es wurde plötzlich sehr still.
Der Kapitän gab Befehl, die Winde anzuwerfen. »Wir brauchen einen neuen Hai«, sagte er.
Der Kapitän kam auf Jun Do zu, legte ihm die Hand um den Nacken und zog ihn zärtlich zu sich heran, bis sie fast Stirn an Stirn standen. Das hatte noch nie jemand getan, und es schien Jun Do, als gäbe es nur noch sie beide. Der Kapitän sagte: »Nicht, weil du derjenige bist, der dem Zweiten Maat die ganzen verdammten Flöhe ins Ohr gesetzt hat. Auch nicht, weil du eine Schauspielerin auf die Brust tätowiert hast und keine echte Frau, die zu Hause auf dich zählt. Auch nicht, weil du der mit dem militärischen Schmerztraining bist. Sondern weil dir noch nie jemand was über Familie beigebracht hat: Dass man vor keinem Opfer zurückschreckt, wenn es darum geht, seine Familie zu schützen.«
Der Kapitän blickte ihn offen und ruhig an und war Jun Do so nah, dass der das Gefühl hatte, zwischen ihnen bestünde ein tiefes, wortloses Einverständnis. Die Hand in seinem Nacken war fest, und Jun Do merkte, wie er nickte.
Der Kapitän sagte: »Du hast noch nie jemanden gehabt, der dich anleitet, aber jetzt bin ich da, und ich sage dir, dass das hier das Richtige ist. Diese Männer
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