Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
antworten?«, sinnierte der Alte. »Im Krieg war ich tapfer, ein furchtloser Kämpfer. Und nach dem Sieg war ich immer noch zu allem bereit.« Er beugte sich vor ins Licht, und Jun Do konnte viele Narben in dem kurzen grauen Haar sehen. »Damals hätte ich mich vielleicht Inspektor genannt.«
Jun Do ging auf Nummer sicher: »Große Männer wie Sie haben den vaterländischen Befreiungskrieg gewonnen und die Imperialisten aus unserem Land vertrieben.«
Der Alte schenkte sich Tee in den Deckel der Thermoskanne, trank aber nicht – er drehte den dampfenden Becher bloß langsam zwischen beiden Händen. »Was für eine traurige Geschichte, die mit deinem Freund, dem jungen Fischer. Das Seltsame ist, dass er wirklich ein Held war. Ich habe die Geschichte selbst überprüft. Er hat tatsächlich schwer bewaffnete Amerikaner mit nichts als einem Fischmesser abgewehrt. Mit solchen verrückten Sachen schafft man sich Respekt, aber gleichzeitig verliert man Freunde. Das kenne ich nur zu gut. Vielleicht ist ja so was zwischen der Besatzung und dem jungen Maat vorgefallen.«
Jun Do erwiderte: »Es war nicht Schuld des Zweiten Maats,dass die Amerikaner zurückkamen. Er wollte keinen Ärger, und sterben wollte er schon gar nicht. Sie haben doch gehört, dass er bei lebendigem Leib von Haien gefressen wurde, oder?«
Der Alte sagte nichts.
»Wollen Sie das nicht notieren?«
»Wir haben deinen Freund heute Morgen in einem Schlauchboot abgefangen. Das war noch bevor ihr euren angeblichen Überfall gemeldet habt. Zigaretten hatte er genug, aber die Streichhölzer waren ihm nass geworden. Dein Freund hat über das, was er getan hat, bitterlich geweint, er konnte gar nicht mehr aufhören.«
Jun Do ließ sich das durch den Kopf gehen. Was für ein armer, dummer Bengel. Er hatte geglaubt, sie hingen gemeinsam in dieser Sache, doch jetzt wurde ihm klar, dass er ganz auf sich gestellt war, und alles, was ihm blieb, war seine Geschichte.
»Es wäre schön, wenn diese Lüge wahr wäre«, entgegnete Jun Do, »dann wäre der Zweite Maat nämlich noch am Leben und nicht vor unseren Augen gestorben. Dann hätte der Kapitän seiner Frau nicht mitteilen müssen, dass sie ihn nie wiedersieht.«
»Den wird keiner wiedersehen, darauf könnt ihr euch verlassen«, brummte der Alte. Wieder sah es aus, als sei er eingeschlafen. »Willst du nicht wissen, warum er Republikflucht begangen hat? Ich glaube, dabei fiel auch dein Name.«
»Der Zweite Maat war ein Held und mein Freund«, sagte Jun Do. »Vielleicht sollten Sie dem Toten etwas mehr Respekt erweisen.«
Der Alte stand auf. »Vielleicht sollte ich erst mal dir auf den Zahn fühlen.« Die erste Attacke kam blitzschnell und frontal – mehrere kurze Geraden ins Gesicht. Einen Arm außer Gefecht, in der anderen Hand eine Blutkonserve – Jun Do konnte nichts tun als einstecken.
»Jetzt sag mir, wessen Idee es war«, befahl der Alte. Er schlug Jun Do rechts und links aufs Schlüsselbein. »Warum habt ihr ihn nicht weiter im Süden ausgesetzt, näher an der DMZ?« Irgendwie kam Jun Do nicht aus dem Stuhl, und nachdem er zwei Handkantenhiebe direkt oberhalb der Nieren eingesteckt hatte, saß er endgültig fest. »Warum sind nicht mehr von euch abgehauen? Oder wolltet ihr ihn loswerden, hm?« In schneller Abfolge flammte Schmerz in seinem Nacken, seiner Nase und seinen Ohren auf. Dann konnte er plötzlich nicht mehr richtig sehen.
»Die Amerikaner sind zurückgekommen«, sagte Jun Do. »Sie hatten schrecklich laute Musik. Sie trugen Straßenkleidung und Schuhe mit einem silbernen Haken darauf. Einer hat damit gedroht, unser Schiff anzuzünden. Er hatte ein Feuerzeug mit einem Marschflugkörper darauf. Vorher haben sie uns ausgelacht, weil wir keine Kloschüssel hatten, und jetzt haben sie gelacht, weil wir eine hatten.«
Der alte Mann landete einen geraden Fausthieb auf Jun Dos Brust, und das frische Tattoo ließ Sun Moons Gesicht als flammende Kontur über seinem Herzen auflodern. Der alte Mann legte eine Pause ein, um sich frischen Tee einzuschenken, aber er trank nicht. Mittlerweile war Jun Do klar, wie das Verhör laufen würde. Sein Mentor beim militärischen Schmerztraining hieß Kimsan. Die ganze erste Woche hatten sie an einem Tisch gesessen, der diesem gar nicht unähnlich war, und eine brennende Kerze betrachtet. Sie betrachteten die Flamme, klein und zur Spitze hin am heißesten. Sie spürten den warmen Schein auf ihren Gesichtern. Und jenseits des Scheins war die Dunkelheit. Lass nie
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