Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Amerikanern geentert worden waren, hatte der Kapitän keine Angst mehr vor enternden Amerikanern. Er befahl Jun Do, die Übertragungen auf einen Decklautsprecher zu legen, damit alle den Funkverkehr hören konnten. Jun Do warnte sie, dass sich die nackte Ruderin erst spät melden würde, falls es das war, worauf sie hofften.
Die Nacht war klar, mit stetigem Seegang bei Wind von Nordost, und die Lampen strahlten bis weit ins Wasser hinein, wo die roten Augen von Tiefseewesen leuchteten. Mithilfe der Richtantenne präsentierte Jun Do den Männern das gesamte Spektrum, vom ultratiefen Dröhnen der U-Boot-Kommunikation bis zum Gebell der Transponder, die die Flugzeug-Autopiloten durch die Nacht leiteten. Er führte die Störungen vor, die auftraten, wenn der Radar weit entfernter Schiffe über sie hinwegstrich. Hoch oben auf der Skala rangierte das schrille Rasseln eines Senders, der Hörbücher für Blinde über verschlüsselte Kanäle übertrug, und zualleroberst das tranceartige Zischen der kosmischen Strahlung im Van-Allen-Gürtel. Der Kapitän interessierte sich am meisten für die singenden, betrunkenen Russen, die auf einer Bohrinsel arbeiteten. Bei jeder vierten oder fünften Zeile brummte er mit, gleich, sagte er, gleich würde ihm auch der Titel des Liedes wieder einfallen.
Die ersten drei Haie, die ihnen an den Haken gegangen waren, hatte ein größerer Hai gefressen, außer Kopf und Kiemen war nichts von ihnen übrig. Auf Kurzwelle fand Jun Do eine Frau in Djakarta, die englische Sonette las; er übersetzte sinngemäß, während der Kapitän und die Maate die Größe der Bissränder begutachteten und durch die leeren Haiköpfe spähten. Er spielte ihnen zwei Männer irgendwo auf der Welt vor, die versuchten, über Amateurfunk eine mathematische Knobelaufgabe zu lösen, was sich aber als schwer übersetzbarerwies. Immer wieder ertappte Jun Do sich dabei, wie er zum nördlichen Horizont starrte, und er zwang sich wegzuschauen. Sie lauschten Flugzeugen und Schiffen und den seltsamen Echos, die durch die Krümmung der Erde zustande kommen. Jun Do versuchte, ihnen das Prinzip von FedEx zu erklären, und die Männer diskutierten darüber, ob ein Päckchen wirklich innerhalb von vierundzwanzig Stunden von einem Punkt auf der Erde an einen beliebigen anderen geschickt werden konnte.
Der Zweite Maat erkundigte sich immer wieder nach der nackten Ruderin.
»Ich wette, die hat Brustwarzen wie Eiszapfen«, sagte er. »Und ihre Schenkel sind garantiert ganz weiß vor lauter Gänsehaut.«
»Von der hören wir erst im Morgengrauen etwas«, erwiderte Jun Do. »Bis dahin brauchen wir uns nicht den Kopf über sie zu zerbrechen.«
Der Maschinist sagte: »Pass bloß auf, bei den starken amerikanischen Beinen.«
»Vom Rudern kriegt man einen kräftigen Rücken«, sagte der Erste Maat. »Ich wette, die kann eine Makrele zerreißen.«
»Zerreiß mich, bitte!«, sagte der Zweite Maat. »Wartet nur, bis sie rausfindet, dass ich ein Held bin. Ich könnte als Botschafter auftreten, und dann machen wir ein bisschen Frieden.«
Der Kapitän erwiderte: »Warte, bis sie rausfindet, dass du Frauenschuhe trägst.«
»Ich wette, sie trägt Männerschuhe«, warf der Steuermann ein.
»Außen kalt und innen heiß«, sagte der Zweite Maat. »So müssen Frauen sein.«
Jun Do fuhr herum. »Vielleicht haltet ihr jetzt endlich mal den Mund?«
Die Männer verloren das Interesse an der Funküberwachung. Die Übertragungen liefen weiter, aber die Mannschaft arbeitete schweigend, und außer den Winden, dem Klatschen von Bauchflossen und den Messern war nichts zu hören. Der Erste Maat rollte einen Hai herum, um ihm die Afterflossen abzuschneiden, da rutschte unter einem Hautlappen eine Blase voller schmieriger, glibberiger Haijungen heraus, von denen die meisten noch am Dottersack hingen. Der Kapitän kickte sie ins Wasser und sagte dann eine Pause an. Die winzigen Haie sanken nicht, sondern trieben neben dem Schiff an der Oberfläche, und ihre halb ausgebildeten Augen verdrehten sich in alle möglichen Richtungen.
Die Männer rauchten Konsols und hielten auf den Luken die Gesichter in den Wind. In Augenblicken wie diesem schauten sie nie in Richtung Nordkorea – immer nach Osten, Richtung Japan, oder noch weiter hinaus in den endlosen Pazifik.
Trotz der Anspannung überkam Jun Do ein Gefühl wie damals als Junge, wenn er auf dem Waisenhausacker oder in einer Fabrik geschuftet hatte. Zusammen mit anderen Jungen hatte er den ganzen Tag lang
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