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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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zu, dass der Schmerz dich in die Dunkelheit treibt, sagte Kimsan. Dort bist du nie m and mehr, du bist allein. Sobald du dich von der Flamme abwendest, ist es vorbei.
    Der Alte fing von neuem an zu fragen, diesmal nicht nach der Geschichte vom Zweiten Maat auf dem Rettungsfloß, sondern nach der Geschichte vom Zweiten Maat an Bord der Junma : Wie viele Haie, wie hoch war der Seegang, und waren die amerikanischen Gewehre entsichert? Er teilte seine Kräfte ein, verabreichte eine langsame, ausgedehnte Abfolge wohlbemessener Schläge, auf die Wangenknochen und den Mund und die Ohren, und als ihm die Hände weh zu tun schienen, wechselte er zu den weichen Körperteilen. Die Fingerspitze verspürt in der Kerzenflamme Schmerz, aber der ganze restliche Körper befindet sich im warmen Schein ihres Lichts. Der Schmerz bleibt in der Fingerspitze, und dein Körper bleibt im warmen Schein. Jun Do errichtete Wände in seinem Innern – einen Treffer an der Schulter durfte er nur an der Schulter spüren, und mit purer Willenskraft isolierte er diese von seinem restlichen Körper. Zielte der Alte aufs Gesicht, so bewegte Jun Do ein wenig den Kopf, damit keine zwei Schläge dieselbe Stelle trafen. Die Flamme bleibt an den Fingern, die Finger bleiben in Bewegung, dein übriger Körper entspannt sich im warmen Schein .
    Ein gepeinigter Ausdruck zeichnete sich auf dem Gesicht des Alten ab, und er hielt inne, um sich zu strecken. Sich nach rechts und links dehnend sagte er: »Über den Krieg wird schrecklich viel geredet. Damals wurde praktisch jeder zum Held. Sogar Bäume wurden zu Helden erklärt. Wirklich wahr. In meiner Abteilung sind alle Kriegshelden, außer den Neuen natürlich. Vielleicht hat es dir ja nicht gepasst, dass dein Freund ein Held geworden ist. Vielleicht wolltest du ja auch einer sein.«
    Jun Do versuchte, im Schein zu bleiben, aber die Konzentration fiel ihm schwer. Jeden Moment rechnete er mit dem nächsten Schlag.
    »Wenn du mich fragst«, sagte der Alte, »ich halte Helden für labil und unberechenbar. Sie bringen ganz schön was, aber die Zusammenarbeit mit ihnen ist zum Kotzen. Glaub’s mir, ich weiß, wovon ich rede«, sagte er und zeigte auf eine lange Narbe an seinem Arm. »Die Neuen in meiner Abteilung sind alles Studierte.«
    Erneut kam Glanz in die Augen des alten Mannes, und er packte Jun Do im Nacken und ließ eine Abfolge dumpfer Schläge auf seinen Magen einprasseln. »Wer hat ihn ins Wasser geworfen?«, fragte er und traf ihn am Brustbein. »Was waren seine letzten Worte?« Eins, zwei, drei kamen die Fausthiebe. »Warum weißt du nicht, was der Kapitän in dem Augenblick tat?« Die Fäuste trieben die Luft aus seiner Lunge. »Warum habt ihr keinen Notruf abgesetzt?« Dann beantwortete der Alte all seine Fragen selbst: »Weil die Amerikaner nie da waren. Weil ihr die Nase voll hattet von dem blöden Aufschneider und ihn umgebracht und über Bord geworfen habt. Ihr kommt alle ins Lager, das weißt du genau, das ist sowieso schon beschlossene Sache. Du kannst es mir also genauso gut verraten.«
    Der alte Mann brach ab. Er lief kurz auf und ab, die eine Hand in der anderen, die Augen scheinbar erleichtert geschlossen. Da hörte Jun Do Kimsans Stimme, als sei sie ganz nah, direkt bei ihm. Du bist die Flamme. Der alte Mann fasst nur mit den Händen in deine heiße Flamme . Kimsan würde ihm raten, auch mit den Ellbogen und Unterarmen und Füßen und Knien zuzuschlagen, aber nur seine Hände berühren deine Flamme, und sieh bloß, wie er sich verbrennt.
    »Ich habe nicht lange überlegt«, sagte Jun Do. »Als ich sprang und das Salzwasser an meine frische Tätowierungkam, geriet ich in Panik. Die Haie knabberten noch mit den Gaumen, sie bissen noch nicht mit den Zähnen ins Fleisch, und die Amerikaner lachten und zeigten dabei ihre weißen Zähne, und beides wurde eins in meinem Kopf.«
    Die Erwiderung des Alten klang missmutig. »Nein, das sind alles Lügen.« Und er begann erneut. Mit jedem Schlag zählte er auf, was an der Geschichte alles nicht stimmte – sie seien eifersüchtig auf den Heldenstatus des Zweiten Maats gewesen, Jun Do könne sich nicht einmal an die Kleidung der Leute erinnern, sie hätten ... die Flamme ist winzig. Ein ganzer Tag wäre nötig, um jedes Stück Haut eines Körpers anzusengen. Du musst im warmen Schein bleiben. Du darfst nie in die Dunkelheit gehen, denn dort bist du allein, von dort kommt keiner zurück . Kimsan sagte damals, das sei die schwierigste Lektion für Jun

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