Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
sehen, der mit den Bewegungen des Schiffs hin- und herglitt. Das Fischöl, das durch die Nähte in den Schotten sickerte, bildete normalerweise einen schwarzen Glanz auf den Nieten, war jetzt aber vor Kälte milchig geronnen. In den Schatten in seinem Verschlag meinte Jun Do, eine völlig reglos dastehende, kaum atmende Person zu sehen. Eine Weile hielt auch er die Luft an.
Im Morgengrauen erwachte er zum zweiten Mal. Er hörte ein schwaches Zischen. Im Schlaf drehte er sich zur Schiffswand, sodass er sich das offene Wasser hinter dem Stahl vorstellen konnte, das direkt vor Sonnenaufgang am schwärzesten war. Er lehnte die Stirn ans Metall und lauschte und nahm über die Haut eine Erschütterung wahr, etwas, das dumpf gegen die Schiffswand stieß.
An Deck blies ein eisiger Wind; Jun Do kniff die Augen zusammen. Das Steuerhaus war verwaist. Dann sah er etwas hinter dem Heck: Auf den Wellen trieb etwas Großes, Graugelbes. Er starrte es einen Augenblick verständnislos an, bis ihm klar wurde, dass es die Rettungsinsel aus dem Russenjet war. Wo sie ans Schiff angeleint war, standen mehrere Konservenbüchsen aufgestapelt. Ungläubig kniete Jun Do sich hin und griff nach der Leine.
Der Zweite Maat tauchte aus der Rettungsinsel auf, um die letzten Büchsen zu holen.
Er krächzte erschrocken. Dann atmete er tief durch und fasste sich. »Reich mir die Dosen an«, sagte er.
Jun Do händigte sie ihm aus. »Ich hab mal einen flüchten sehen«, beschwor er den Zweiten Maat. »Und ich hab gesehen, was mit ihm geschah, als sie ihn zurückgeholt haben.«
»Wenn du mitwillst, kannst du kommen«, sagte der Zweite Maat. »Uns findet niemand. Hier geht die Strömung nach Süden. Uns bringt keiner zurück.«
»Und was ist mit deiner Frau?«
»Sie hat sich entschieden, und da kann keiner was machen«, antwortete er. »Jetzt gib mir die Leine.«
»Und der Kapitän? Und wir?«
Der Zweite Maat langte hoch und machte die Leine selbst los. Er stieß sich ab. Während er davontrieb, sagte er: »Wir sind die auf dem Meeresboden. Durch dich habe ich das kapiert.«
*
Am Morgen war das Licht stumpf und hell, und als die Mannschaft an Deck kam, um ihre Wäsche zu waschen, war der Zweite Maat weg. Sie standen neben der leeren Truhe und spähten zum Horizont, doch das Licht reflektierte von den Wellenkämmen wie von tausend Spiegeln. Der Kapitän ließ den Inhalt der Kajüte inventarisieren, aber abgesehen vom Rettungsboot fehlte eigentlich nichts. Nach dem Kurs des Zweiten Maats befragt, zuckte der Steuermann die Achseln und zeigte nach Osten in Richtung Sonne. Sie konnten nicht fassen, was geschehen war.
»Die arme Frau«, sagte der Maschinist.
»Die schicken sie ins Lager, mit Sicherheit«, sagte der Erste Maat.
»Sie schicken uns alle ins Lager«, erwiderte der Maschinist. »Unsere Frauen, unsere Kinder.«
»Wir sagen einfach, er ist über Bord gegangen«, meinte Jun Do. »Eine Monsterwelle hat ihn vom Schiff gespült.«
Der Kapitän hatte bisher geschwiegen. »Bei unserer ersten Fahrt mit einem Rettungsboot?«
»Wir sagen einfach, die Welle hat auch das Schlauchboot über Bord gespült.« Jun Do zeigte auf die Netze und Bojen. »Das Zeug da schmeißen wir auch über Bord.«
Der Kapitän riss sich Hemd und Mütze vom Leib und warf sie von sich. Er setzte sich mitten aufs Deck und ließ den Kopf in die Hände sinken. Erst in diesem Augenblick überkam die Männer echte Angst. »Ich kann nicht noch mal so leben«, sagte er. »Ich kann nicht noch einmal vier Jahre geben.«
Der Steuermann sagte: »Es war keine Monsterwelle, sondern die Heckwelle von einem südkoreanischen Containerschiff. Wir wären beinahe abgesoffen.«
Der Erste Maat schlug vor: »Wir fahren bei Wŏnsan auf Grund und schwimmen an Land. Der Zweite Maat hat’s dann einfach nicht geschafft. Wir schwimmen an einen Strand voller Rentner, da haben wir jede Menge Zeugen.«
»Da sind keine Rentner«, erwiderte der Kapitän. »Das sagen sie nur, damit wir weitermachen.«
Jun Do schlug vor: »Wir könnten ja nach ihm suchen.«
»Bitte, nur zu«, sagte der Kapitän.
Jun Do hielt eine Hand über die Augen und ließ den Blick über die Wellen gleiten. »Meint ihr, er überlebt da draußen? Meint ihr, er kann es schaffen?«
Der Erste Maat sagte: »Scheiße, seine arme Frau.«
»Solange wir nicht entweder den Mann oder das Schlauchboot haben, sind wir komplett aufgeschmissen«, sagte der Kapitän. »Das glauben die uns nie, wenn beide weg sind.« Auf dem Deck
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