Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
hier sind deine Familie, und ich weiß, dass du alles für sie tun würdest. Beweise es.«
Der Hai hatte die ganze Nacht an der Leine gehangen und war fast tot. Als er aus dem Wasser gezogen wurde, waren seine Augen weiß, und an Deck öffnete und schloss er das Maul weniger, als versuche er nach Luft zu schnappen, sondern vielmehr, als versuche er das auszukotzen, was ihn langsam umbrachte.
Der Kapitän wies den Steuermann an, Jun Dos Arm festzuhalten, aber Jun Do sagte Nein, er würde ihn selbst hinstrecken. Der Maat und der Maschinist wuchteten den Hai hoch, der von der Nasen- bis zur Schwanzspitze nicht ganz zwei Meter maß.
Jun Do atmete tief durch und sah den Kapitän an. »Haie – Gewehre – Rache«, sagte er. »Ich weiß, ich bin derjenige, der sich das gerade ausgedacht hat, aber glauben kann diese Geschichte doch eigentlich kein Mensch.«
»Stimmt«, erwiderte der Kapitän. »Aber es ist eine Geschichte, mit der sie etwas anfangen können.«
*
Nachdem sie einen Notruf abgesetzt hatten, geleitete ein Schiff der Küstenwache sie nach Kinjye, wo sich bereits eine Menschenmenge am Kai versammelt hatte. Mehrere Abgesandte vom Informationsministerium waren da, zwei Reporter von der Rodong Sinmun und ein paar Leute von der örtlichen Sicherheitsabteilung, die man nur kannte, wenn man ein Säufer war. Aus der neuen Konservenfabrik quoll Dampf, was hieß, dass gerade der Sterilisationsdurchgang lief. Die Arbeiter saßen auf umgedrehten Eimern und warteten darauf, einen Blick auf den Mann zu erhaschen, der gegen die Haie gekämpft hatte. Sogar die Straßenkinder und kleinen Krüppel beäugten die Sache misstrauisch durch die Aquarien mit den Sushi-Fischen hindurch; ihre Gesichter hinter den Aji -Becken wirkten groß und verzerrt.
Ein Arzt kam mit einer Blutkonserve auf Jun Do zu und suchte an dem zerfetzten Arm nach einer Vene, aber Jun Do wandte ein: »Fließt das Blut nicht gleich wieder raus, wenn Sie es in diesen Arm pumpen?«
»Ich behandle ausschließlich Helden«, sagte der Arzt. »Ich kenne mich mit Blut aus. Und das muss genau da hin, wo esrausfließt.« Er steckte die Kanüle in eine Vene auf dem Handrücken, klebte sie fest und ließ Jun Do den Infusionsbeutel mit dem guten Arm hochhalten. Dann wickelte er das blutige T-Shirt ab – die Wunde war unübersehbar. Wie schartiges Milchglas hatten die Haifischzähne ganze Arbeit geleistet, und als der Arzt die tiefen Schrunden im Fleisch ausspülte, blitzte blanker Knochen hervor.
Den Reportern und dem Minister gab Jun Do eine knappe Zusammenfassung seiner Begegnung mit dem amerikanischen Aggressor. Viele Fragen stellten sie nicht. Sie schienen sich eigentlich nur für Details zu interessieren, die die Glaubwürdigkeit der Geschichte weiter untermauerten. Plötzlich stand der ältere Mann mit dem Bürstenschnitt und den ramponierten Händen vor ihm, der das letzte Mal den Zweiten Maat mitgenommen hatte. Er hatte denselben grauen Anzug an. Aus der Nähe fielen Jun Do seine schweren Lider auf – es sah aus, als wolle er beim Sprechen seine Augen schonen.
»Ich muss Ihre Geschichte überprüfen«, sagte er und hielt eine silberne Plakette hoch, auf der kein Name stand. Sie zeigte lediglich eine dicke, über der Erde schwebende Steinmauer.
Jun Do wurde einen Pfad entlang geführt; der gute Arm hielt die Blutkonserve, der andere steckte in einer Schlinge. Neben einem Haufen Ziegelsteinen, stand der Kapitän und sprach mit der Frau des Zweiten Maats. Sie weinte nicht. Misstrauisch beäugte sie erst den Mann mit dem Bürstenschnitt, dann Jun Do, schließlich wandte sie sich wieder dem Kapitän zu, der tröstend einen Arm um ihre Schultern legte. Jun Do schaute kurz zurück zu dem Menschenauflauf am Anleger, wo seine Kameraden die Geschichte mit großen Gesten erzählten. Sie schienen ihm auf einmal sehr weit entfernt.
Der Mann brachte ihn zu der verlassenen Konservenfabrik. Nur die riesigen Dampfdruckkessel, die einsamen Gasverteilerrohre und die verrosteten Schienen im Boden ließen noch die ursprüngliche Funktion des hohen Gebäudes erahnen. Durch Löcher im Dach fielen Lichtstrahlen auf einen Klapptisch mit zwei Stühlen.
Auf dem Tisch stand eine Thermoskanne. Der alte Mann setzte sich und schraubte langsam den knirschenden Deckel ab. Seine Hände bewegten sich, als trage er dicke Fäustlinge. Wieder schloss er die Augen, als seien sie müde, aber er war einfach nur alt.
»Sie sind also ein Inspektor?«, fragte Jun Do.
»Was soll man darauf
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