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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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hart gearbeitet, und es stand zwar immer noch eine Menge Plackerei bevor, aber das Ende war in Sicht, und bald würden sie zusammen Hirse und Kohl und vielleicht Melonenschalensuppe essen. Dann die Schlafenszeit, hundert Kinder gemeinsam in einem Saal, in vier Etagen übereinander, alle gleichermaßen erschöpft, alle vereint. Es war ein Zusammengehörigkeitsgefühl, zwar nicht besonders tiefgehend oder intensiv, aber das beste, das er kannte. Seit seiner Kindheit versuchte er eigentlich ständig, alleine zu sein, aber es gab Augenblicke an Bord der Junma , da er sich als Teil der Gemeinschaft empfand. Und dann verspürte er ein tiefes Gefühl der Befriedigung.
    Der Empfänger hatte eine Suchlauffunktion und hielt jede Frequenz nur ein paar Sekunden. Der Zweite Maat reagierte als Erster auf die Stimme, die ihm bekannt vorkam. »Da sind sie«, sagte er. »Die Geisteramerikaner.« Er zog die Schuhe aus und kletterte barfuß aufs Steuerhaus. »Sie sind wieder da unten. Aber dieses Mal kriegen wir sie.«
    Der Kapitän schaltete die Motorwinde aus, damit sie besser hören konnten. »Was sagen sie?«, fragte er.
    Jun Do rannte zum Gerät und stellte den Sender fest ein, feinjustierte, obwohl der Empfang gut war. »Dame auf B5«, dolmetschte Jun Do. »Das sind die Amerikaner. Einer spricht mit einem russischen Akzent, ein anderer klingt wie ein Japaner.« Glasklar drang das Gelächter der Amerikaner aus dem Lautsprecher. Jun Do übersetzte: »Passen Sie bloß auf, Kommandant. Dimitri hat’s immer auf den Turm abgesehen.«
    Der Kapitän trat an die Reling und starrte ins Wasser, kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Aber wir sind hier über dem Graben«, sagte er. »So tief kann keiner tauchen.«
    Der Erste Maat trat neben ihn. »Aber du hörst sie doch. Die spielen da unten Schach.«
    Jun Do verdrehte den Kopf nach dem Zweiten Maat, der hochgeklettert war und die Richtantenne losmachte. »Pass aufs Kabel auf«, rief er und sah auf die Uhr: Schon fast zwei Minuten waren um. Dann meinte er, einen koreanischen Störsender zu hören, der dazwischenfunkte, jemanden, der über Experimente oder so etwas redete. Jun Do hechtete zum Sender, um ihn noch exakter einzustellen, kriegte die andere Stimme aber einfach nicht raus. Doch wenn es kein Störsender war ... er versuchte, den Gedanken abzuschütteln, dass auch ein Koreaner dort unten dabeisaß.
    »Was sagen die Amerikaner?«, fragte der Kapitän.
    Jun Do übersetzte: »Die verdammten Schachfiguren schweben ständig davon.«
    Der Kapitän blickte wieder ins Wasser. »Was machen die da unten bloß?«
    Dann hatte der Zweite Maat endlich die Antenne vom Mast abmontiert und richtete sie auf die Tiefsee. Die Mannschaft wurde still. Schweigend warteten sie, während er die Antenne langsam übers Wasser schweifen ließ. Nichts war zu hören.
    »Da stimmt was nicht«, sagte Jun Do zu ihm. »Der Stecker muss sich gelockert haben.«
    Und dann war auf einmal die Hand des Kapitäns in Jun Dos Blickfeld – sie deutete zum Himmel auf einen Lichtpunkt, der zwischen den Sternen entlangraste. »Da oben, mein Junge«, sagte der Kapitän, und sobald der Zweite Maat die Antenne hob und auf den Lichtpunkt ausrichtete, ertönte kreischend Rückkopplung, und dann klang es, als wären die amerikanischen, russischen und japanischen Stimmen direkt auf ihrem Schiff.
    Jun Do dolmetschte: »Der Russe hat gerade gesagt: Schachmatt, mein Freund , und der Amerikaner sagt: Schwachsinn, die Steine sind davongeschwebt, das schreit doch nach Revanche , und jetzt sagt der Russe zum Amerikaner: Na komm, gib das Brett her. Vielleicht haben wir vor der nächsten Umkreisung noch Zeit für ein neues Spiel Moskau gegen Seoul .«
    Der Zweite Maat verfolgte den Lichtpunkt bis zum Horizont, und als das Licht hinter die Erde tauchte, war auch das Signal weg. Die Mannschaft starrte den Zweiten Maat an, und der starrte weiter in den Himmel. Schließlich blickte er zu den anderen hinunter. »Die sind da oben zusammen im Weltall«, sagte er. »Das sollen unsere Feinde sein, und die sitzen da oben und lachen und amüsieren sich.« Er ließ die Antenne sinken und sah Jun Do an. »Du hast dich geirrt«, sagte er. »Du hast dich geirrt. Die machen das doch für Frieden und scheiß Brüderlichkeit.«
    *
    Jun Do erwachte im Dunkeln. Er stützte sich auf den Ellbogen und setzte sich lautlos auf, um zu lauschen – wonach? Sein Atemhauch hing weiß vor ihm in der Luft. Es war hell genug, um den Wasserfilm auf dem Boden zu

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