Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Do, denn genau das habe er als Kind getan, er sei in die Dunkelheit gegangen. Das war die Lektion, die er von seinen Eltern gelernt hatte, wer sie auch sein mochten. Wer in der Dunkelheit aufging, wer sich einfach abschaltete, der war zu allem fähig – er konnte riesige Bottiche in der Pangu-Farbenfabrik reinigen, bis ihm der Kopf zu bersten drohte und er rosa Tröpfchen hustete und der Himmel über ihm gelb wurde. Er konnte freundlich lächeln, wenn die anderen Kinder von Eisenschmelzen und Fleischfabriken adoptiert wurden, und wenn er eins mit der Dunkelheit war, konnte er »Du hast aber Glück« und »Mach’s gut« sagen, wenn die Männer mit dem chinesischen Akzent kamen.
Jun Do wusste nicht, wie lange der alte Mann ihn schon bearbeitete. All seine Sätze verschmolzen zu einem einzigen, der keinen Sinn ergab. Jun Do war wieder im Wasser, er sah den Zweiten Maat vor sich. »Ich habe versucht, den Zweiten Maat zu packen, aber sein Körper zuckte und tanzte, und ichwusste, was die Haie mit ihm machten, ich wusste, was unter Wasser los war. Er wog nichts mehr in meinen Händen, es war, als wollte man ein Sitzkissen retten, mehr war nicht mehr übrig von ihm, aber nicht mal das habe ich geschafft.«
Als Jun Do das Hämmern hinter seinen Augen abgegrenzt hatte und das heiße Blut in seiner Nase, als er die aufgeplatzte Lippe und das Stechen in seinen Ohren daran gehindert hatte, nach innen zu dringen, als er seine Arme und seinen Rumpf und seine Schultern abgeblockt hatte, sodass er dort nichts mehr empfand, als er jeden schmerzenden Körperteil isoliert hatte, war nur noch sein Innerstes übrig, und dort fand er einen kleinen Jungen, der naiv lächelte, der keine Ahnung hatte, was mit dem Mann da draußen gerade passierte. Und plötzlich war die Geschichte wahr, war sie ihm eingebläut worden, und er fing an zu weinen, weil der Zweite Maat tot war und er daran nichts mehr ändern konnte. Plötzlich sah er ihn vor sich im dunklen Wasser, die ganze Szene nur vom roten Schein einer einzelnen Leuchtpistole erhellt.
»Mein Freund! Ich konnte nichts für ihn tun!«, schluchzte Jun Do, und die Tränen liefen ihm das Gesicht herab. »Er war allein, und das Wasser war schwarz. Nicht mal den kleinsten Fetzen von ihm konnte ich retten. Ich sah ihm in die Augen, aber er wusste nicht mehr, wo er war. Er rief um Hilfe, unheimlich ruhig sagte er: Ich glaube, jemand muss mich retten , und dann war ich schon mit dem Bein über die Reling und im Wasser.«
Der alte Mann hielt inne. Er stand da wie ein Chirurg, mit erhobenen Händen, und sie troffen von Spucke, Schleim und Blut.
Jun Do erzählte weiter. » Es ist so dunkel, ich weiß nicht, wo ich bin , sagte er. Hier bin ich, sagte ich, hör meine Stimme. Er fragte: Wo bist du? Ich berührte sein Gesicht, und eswar kalt und weiß. Es kann nicht sein, dass ich hier bin, sagte er. Da draußen ist ein Schiff – aber ich kann seine Lichter nicht sehen . Das waren seine letzten Worte.«
» Ich kann seine Lichter nicht sehen? Warum hat er so was gesagt?« Als Jun Do keine Antwort gab, fragte der Alte: »Aber du hast doch wirklich versucht, ihn zu retten, nicht wahr? Dabei bist du doch zerbissen worden. Und da waren doch die Amerikaner, die ihre Gewehre auf euch gerichtet hatten, stimmt’s?«
Der Infusionsbeutel in Jun Dos Hand wog eine Tonne, mit letzter Kraft hielt er ihn oben. Als er ihn schließlich in den Blick bekam, stellte er fest, dass der Beutel leer war. Er sah den Alten an. »Was?«, fragte er.
»Vorhin hast du gesagt, seine letzten Worte seien gewesen: Alle Ehre gebührt Kim Jong Il, dem Geliebten Führer der Demokratischen Volksrepublik Korea . Du gibst also zu, dass das gelogen war.«
Die Kerze war erloschen. Die Flamme, der warme Schein, die Dunkelheit – plötzlich war alles weg, und ihm blieb nichts mehr. Was er tun sollte, wenn die Schmerzen aufhörten, darüber hatte Kimsan nie gesprochen.
»Aber merken Sie es denn nicht? Es ist alles gelogen!«, sagte Jun Do. »Warum habe ich keinen Notruf abgesetzt? Warum habe ich die Mannschaft nicht dazu gebracht, eine richtige Rettungsaktion zu starten? Wenn die ganze Mannschaft mit angepackt hätte, hätten wir ihn noch retten können. Ich hätte die Männer auf Knien anflehen müssen. Aber ich habe nichts dergleichen getan. Ich bin nur nass geworden. Das Einzige, was ich gespürt habe, war das Brennen von meinem Tattoo.«
Der alte Mann setzte sich auf den anderen Stuhl. Er schenkte sich frischen Tee ein, und diesmal
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