Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
sah. Er streckte die Hände danach aus, drehte sie um, roch daran.
»Kannst du mir mehr davon besorgen?«, fragte er.
»Eventuell«, antwortete sie. Auf einem Tisch stand eine Schachtel etwa von der Größe eines großen Schuhkartons. »Das ist es?«
»Ja«, sagte er, die Nikes bestaunend. Dann zeigte er auf die Schachtel. »Du weißt hoffentlich, dass das nicht einfach zu besorgen war – kommt direkt aus dem Süden.«
Sie klemmte den Karton unter den Arm, ohne hineinzuschauen.
»Und was will dein Freund?«, fragte Gun.
Jun Do sah sich in dem Zimmer um: die Kisten mit seltsamen chinesischen Schnäpsen, die Altkleiderballen, die Drähte, die aus der Wand hingen, wo früher einmal der Lautsprecher gewesen war. In einem Vogelkäfig drängelten sich Kaninchen. »Ich brauche nichts.«
»Ah. Ich habe aber gefragt, was du willst «, sagte Gun und lächelte zum ersten Mal. »Komm, ich schenk dir was. Ich glaube, ich habe einen Gürtel, der dir passen müsste.« Er versuchte, an eine Plastiktüte auf dem Boden heranzukommen, die voll alter Gürtel war.
»Nicht nötig«, wehrte Jun Do ab.
Die Frau des Zweiten Maats sah ein Paar Schuhe, das ihr gefiel. Sie waren schwarz und so gut wie neu. Während sie sie anprobierte, warf Jun Do einen Blick in die vielen Kisten. Gun verkaufte russische Zigaretten und Pillenbeutelchen mit handgeschriebenen Etiketten; eine Schale war voller Sonnenbrillen. Jun Do sah einen Turm aus Bratpfannen in Familiengröße – ihre Griffe zeigten in lauter verschiedene Richtungen, und irgendwie fand er den Anblick traurig.
Auf einem kleinen Regal entdeckte er seine Englisch-Wörterbücher. Er las seine alten Randbemerkungen und musste daran denken, wie unmöglich ihm einst idiomatische Wendungen wie »Trockenlauf« oder »Knapp daneben ist auch vorbei« vorgekommen waren. Als er ein bisschen weiterstöberte, fand er den Dachshaarrasierpinsel, der eigentlich dem Kapitän gehörte. Jun Do mochte es dem Zweiten Maat nicht übelnehmen, dass er diese persönlichen Dinge hatte mitgehen lassen, aber als er sich zur Frau des Zweiten Maats umdrehte, die die schwarzen Schuhe im Spiegel betrachtete, war es ihm auf einmal wichtig, ob sie von ihrem Mann oder von ihr hier verhökert worden waren.
»Ich nehme sie«, sagte sie.
»Sehen richtig gut aus«, sagte Gun. »Das Leder ist aus Japan, beste Qualität. Wenn du mir noch ein Paar Turnschuhe bringst, sind wir im Geschäft.«
»Nein«, erwiderte sie. »Die Nikes sind viel zu kostbar. Wenn ich das nächste Paar habe, dann sehen wir, ob du sie aufwiegen kannst.«
»Wenn du das nächste Paar kriegst, bringst du’s mir. Abgemacht.«
»Abgemacht«, sagte sie.
»Gut«, sagte er. »Du kannst die Schuhe mitnehmen, dann schuldest du mir was.«
»Ich schulde dir was«, bestätigte sie.
»Mach das nicht«, sagte Jun Do.
»Ich habe keine Angst«, sagte sie.
»Gut«, sagte Gun. »Wenn du mir einmal nützlich sein kannst, dann hol ich dich, und dann sind wir quitt.«
Sie klemmte den Karton unter den Arm und wandte sich zur Tür. Beim Hinausgehen erblickte Jun Do etwas auf einem Tischchen und nahm es in die Hand. Es war eine Taschenuhr an einer kurzen Kette. Der Waisenhausaufseher hatte so eine Uhr gehabt und damit das Kinderleben kontrolliert, vom Morgengrauen bis zum Licht-aus, hatte genau die Zeit im Blick behalten, wenn er die Kinder zum Reinigen von Kloakenbehältern auslieh oder zum Leeren von Ölauffangbehältern in tiefen Schächten, in die man sie mit Seilen hinunterließ. Jeder Augenblick wurde von dieser Uhr bestimmt; den Jungen sagte er nie, wie viel Uhr es war, aber sie konnten an seinem Gesichtsausdruck ablesen, welche Aufgaben anstanden, bis er das nächste Mal auf die Uhr sah.
»Nimm die Uhr ruhig mit«, sagte Gun. »Ich hab sie von einem alten Mann, der sagte, sie sei ein Leben lang perfekt gelaufen.«
Jun Do legte die Uhr wieder hin. Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte und sie wieder auf dem Flur standen, fragte er: »Was ist Gun zugestoßen?«
»Er hat sich letztes Jahr den Fuß verletzt, eine Dampfdruckleitung, irgend so was.«
»Letztes Jahr?«
»Die Wunde verheilt einfach nicht, hab ich vom Vorarbeiter gehört.«
»Du hättest nicht diesen Handel mit ihm abschließen sollen«, sagte Jun Do.
»Wenn er kommt, um seine Schulden einzutreiben, bin ich längst weg«, erwiderte sie.
Jun Do sah sie an. In diesem Augenblick tat sie ihm wirklich leid. Er dachte an die Männer, die sie haben wollten, den Lagerkommandanten in Sinpo
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