Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Mädchen retten, das durch deine Träume rudert.«
»Das habe ich nur gesagt, damit er stark bleibt und ein Ziel vor Augen hat«, erwiderte Jun Do. »Eigentlich gibt es immer nur ein einziges Ziel: zu überleben.«
»Mein Mann lebt nicht mehr, oder? Das würdest du mir doch sagen, stimmt’s?«
»Ja, würde ich«, sagte Jun Do. »Er lebt nicht mehr.«
Sie sah ihm in die Augen.
»Konnte das jeder hören, mein Wiegenlied, das ich im Radio gesungen habe?«
»Alle auf dem Ostmeer.«
»Und in Pjöngjang, konnten sie das da auch hören?«
»Nein«, sagte er. »Das ist zu weit weg, zu viele Berge dazwischen. Übers Wasser reicht das Signal weiter.«
»Aber alle, die da draußen zugehört haben?«, beharrte sie.
»Genau. Schiffsführer, Leuchtturmwärter, Matrosen, die haben dich alle gehört. Und er hat dich auch gehört, ganz bestimmt.«
»In deinem Traum?«
»Genau, in meinem Traum«, nickte Jun Do. »In dem Traum, in dem er davontreibt, ins glitzernde Licht, mit dem Radioempfänger. Das ist genauso wahr wie die Haie, die aus der schwarzen Tiefe aufstiegen und ihre Zähne in meinen Arm schlugen. Ich weiß, das eine ist die Wahrheit und das andere ist ein Traum, aber ich kann es nicht auseinanderhalten, weil mir beides so echt vorkommt. Ich weiß nicht mehr, welche Geschichte nun wahr ist.«
»Dann entscheide dich für die schöne Geschichte, die mit dem gleißenden Licht, die, in der er uns hören kann«, sagte sie. »Das ist die wahre Geschichte. Nicht die schreckliche mit den Haien.«
»Aber ist es nicht noch viel schrecklicher, mutterseelenallein auf dem Meer zu treiben, abgeschnitten von der gesamten Menschheit, ohne Freunde, ohne Familie, ohne Ziel, mit nichts als einem Radioempfänger zum Trost?«
Sie berührte seine Wange. »Das bist du, oder?«, sagte sie. »Du erzählst mir gerade deine Geschichte, stimmt’s?«
Jun Do starrte sie an.
»Du armer Junge«, tröstete sie ihn. »Armer kleiner Junge. Das muss alles nicht so sein. Komm aus dem Wasser, komm heraus, das Leben kann auch anders sein! Du brauchst kein Radio, ich bin ja bei dir. Du musst nicht einsam bleiben.«
Sie beugte sich vor und küsste ihn zärtlich auf die Stirn und auf beide Wangen, dann richtete sie sich auf und betrachtete ihn. Sie streichelte ihm die Hand. Als sie sich wieder vorbeugte, als wolle sie ihn küssen, hielt sie inne und starrte auf seine Brust.
»Was ist denn?«, fragte er.
»Ach, nichts«, sagte sie und hielt sich den Mund zu.
»Doch, sag’s mir.«
»Ach, nur dass ich gewohnt bin, auf meinen Mann hinunterzugucken und mein eigenes Gesicht über seinem Herzen zu sehen. Ich habe nie etwas anderes gekannt.«
*
Als am Morgen das Sirenensignal einen weiteren Heldentag der Arbeit ankündigte und die Lautsprecher den gesamten Wohnblock mit ihrem Summen erfüllten, stiegen die beiden aufs Dach, um die Antenne wieder abzumontieren. Die Wasserfläche lag hell und glanzlos in der Frühmorgensonne da, die noch nicht so heiß war, als dass sie Fliegen oder den Gestank des Hundekots hervorgelockt hätte. Die Hunde, die den ganzen Tag lang zu geifern und nach einander zu schnappen schienen, lagen in der kühlen Morgenluft dicht beieinander und übereinander, das Fell weiß vom Tau.
Die Frau des Zweiten Maats setzte sich auf die Dachkante und ließ die Beine herunterbaumeln. Jun Do setzte sich neben sie, schloss aber beim Anblick des zehn Stockwerke unter ihnen liegenden Hofs kurz die Augen.
»Sehr viel länger kann ich mich nicht mehr vor der Arbeit drücken«, sagte sie. »Die Ausrede mit der Trauerzeit zieht nicht mehr. Ich kriege garantiert eine Selbstkritiksitzung aufgebrummt und muss wieder mein volles Plansoll erfüllen.«
Unter ihnen zog ein nicht abreißender Strom von Arbeitern in Overalls über den Hof; sie kreuzten den Fischkarrenpfad, passierten das Haus des Konservenfabrikdirektors und gingen durch das Tor in die Fischfabrik.
»Die gucken nie hoch«, sagte sie. »Immer sitze ich hieroben und schaue auf sie hinunter. Noch nie hat einer hochgeguckt und mich hier erwischt.«
Jun Do nahm all seinen Mut zusammen und schaute hinunter; es war ganz anders, als in die Tiefen des Ozeans zu blicken. Dreißig Meter Luft oder Wasser – umbringen würde einen beides, aber das Wasser trug einen ganz sanft in neue Sphären.
Mittlerweile konnte man kaum noch in Richtung See schauen, weil die Sonne so unglaublich hell auf dem Wasser blitzte. Der Frau des Zweiten Maats war nicht anzumerken, ob das Gleißen sie an Jun Dos
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