Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Freundinnen.« Sie sah ihn zornig an »Was bist du überhaupt für ein Spion?«
»Ich bin nur ein Funker, nichts weiter.«
»Warum kann ich das einfach nicht glauben? Warum hast du keinen normalen Namen? Was weiß ich denn schon über dich? Nichts, außer dass mein Mann, der das geistige Niveau eines Dreizehnjährigen hatte, dich vergöttert hat. Deswegen hat er auch mit deinen Radioempfängern rumgespielt. Deswegen hat er deine Wörterbücher bei Kerzenlicht auf dem Klo gelesen und um ein Haar das Schiff abgefackelt.«
»Was sagst du da?«, entgegnete er. »Der Maschinist hat gesagt, es wäre ein Kabelbrand gewesen.«
»Von mir aus.«
»Er war schuld an dem Feuer?«
»Und, willst du wissen, was er dir sonst alles nicht erzählt hat?«
»Ich hätte ihm Englisch beigebracht, er hätte mich nur zu fragen brauchen. Wofür wollte er das?«
»Er hatte jede Menge idiotischer Pläne.«
»Fluchtpläne?«
»Er meinte immer, das Wichtigste sei ein gutes Ablenkungsmanöver. Der Direktor der Konservenfabrik habe die richtige Idee gehabt, meinte er – man sorgt für eine Szenerie, die so grässlich ist, dass sich niemand auch nur in die Nähe wagt. Und dann macht man sich aus dem Staub.«
»Aber die Familie des Fabrikdirektors, die hat sich nicht aus dem Staub gemacht.«
»Nein. Haben sie nicht«, gab sie zu.
»Und nachdem man alle abgelenkt hat, was macht man dann?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich wollte nicht abhauen«, sagtesie. »Er wollte raus in die Welt. Ich träume von Pjöngjang. Das hat er schließlich eingesehen.«
Jun Do war erschöpft. Er zog das gelbe Laken enger um den Leib, aber eigentlich wollte er sich wieder hinlegen.
»Du siehst müde aus«, sagte sie. »Brauchst du dein Glas?«
»Glaube schon«, erwiderte er.
Sie holte das Glas, aber als er danach fasste, ließ sie nicht los. Sie hielten es beide fest, und im Kerzenlicht wirkten ihre Augen unendlich tief.
»Schönheit bedeutet hier gar nichts«, sagte sie. »Hier interessiert nur, wie viele Fische über deinen Tisch gehen. Niemanden juckt es, dass ich so schön singen kann – nur die Kerle, die mich trösten wollen. Aber in Pjöngjang, da sind das Theater, das Kino, das Fernsehen, die Oper. Nur in Pjöngjang werde ich mal jemand sein. Mein Mann hat vielleicht seine Fehler gehabt, aber diesen Wunsch wollte er mir erfüllen.«
Jun Do atmete tief durch. Sobald er das Glas benutzt hatte, würde sie die Kerze auspusten, und der Abend wäre vorbei und das Zimmer so finster wie das Meer, auf dem der Zweite Maat trieb, und das wollte er nicht.
»Ich wünschte, ich hätte meinen Sender«, sagte er.
»Du hast einen Sender? Wo denn?«, fragte sie.
Er deutete mit dem Kinn in Richtung Fenster, zum Haus des Fabrikdirektors. »Bei mir in der Küche«, antwortete er.
*
Jun Dos gewohnter Rhythmus war inzwischen so umgekrempelt, dass er die ganze Nacht durchschlief und am Morgen aufwachte. Die Fische, die im Zimmer an der Leine gehangen hatten, waren verschwunden, und auf dem Stuhl lag sein Sender – loser Kleinkram in einer Plastikschüssel. Dergesamte Wohnblock fing an zu summen, als aus zweihundert Lautsprechern die Nachrichten ertönten. Während er über die bevorstehende Verhandlungsrunde mit Amerika, die Inspektion einer Zementfabrik in Sinpo durch den Geliebten Führer und den glatten Sieg der nordkoreanischen Badminton-Mannschaft gegen Libyen unterrichtet und schließlich daran erinnert wurde, dass der Verzehr von Schwalben verboten sei, da diese die Insekten fraßen, von denen die Reissetzlinge befallen wurden, starrte Jun Do die Stelle an der Wand an, wo die Seekarte gehangen hatte.
Schwerfällig stand er auf und suchte sich ein Stück Packpapier. Dann zog er die blutverkrustete Hose über, die er vor vier Tagen angehabt hatte, als er so zugerichtet worden war. Am Ende des Flurs war die Schlange für die Etagentoilette. Da alle Erwachsenen bei der Arbeit in der Fabrik waren, standen nur alte Frauen und Kinder mit ihren Altpapierfetzen an. Als Jun Do dran war, sah er, dass der Abfalleimer voll mit zerknüllten Seiten aus der Rodong Sinmun war – die Zeitung zu zerreißen war verboten, und sich den Hintern damit abzuwischen erst recht.
Es war eine lange Sitzung. Schließlich schöpfte er zwei Löffel Wasser in die Toilette. Beim Hinausgehen hielt ihn eine alte Frau in der Schlange fest. »Du bist doch der, der im Haus vom Fabrikdirektor wohnt«, sagte sie.
»Stimmt«, erwiderte Jun Do.
»Niederbrennen sollte man das«, sagte sie.
Als
Weitere Kostenlose Bücher