Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
echter Held. Du hast uns alle gerettet, als die Amerikaner kamen, aber als du uns gebraucht hast, waren wir nicht für dich da. Irgendwie werde ich das eines Tages alles wieder gutmachen.«
Jun Do beendete seine Durchsage, und die Nadel an der Anzeige sackte nach unten.
Die Frau des Zweiten Maats starrte ihn an. »Das muss ja ein schrecklich deprimierender Traum gewesen sein. Das war bestimmt die traurigste Nachricht, die je ein Mensch einem anderen geschickt hat.« Als Jun Do nickte, fragte sie: »Und wer ist das Mädchen, das im Dunkeln rudert?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Sie kam in dem Traum vor.«
Er hielt ihr das Mikrofon hin.
»Ich finde, du solltest auch etwas zu ihm sagen«, sagte er.
Sie nahm es nicht in die Hand. »Das ist dein Traum, nicht meiner. Was sollte ich denn schon sagen?«, fragte sie.
»Was hättest du ihm gesagt, wenn du gewusst hättest, dass du ihn nie wiedersehen würdest?«, fragte er. »Du brauchst ja nicht unbedingt zu reden. Ich weiß, dass er dich sehr gern singen gehört hat.«
Jun Do ließ sich auf die Knie sacken und rollte sich zurück auf die Pritsche. Als er auf dem Rücken lag, atmete er mehrmals tief durch. Er versuchte, das Hemd auszuziehen, schaffte es aber nicht allein.
»Hör nicht hin«, bat sie ihn.
Er steckte sich die Finger in die Ohren, ein Gefühl, als trage er Kopfhörer, und sah, wie ihre Lippen sich bewegten. Sie sagte nur ganz wenig, den Blick zum Fenster hinaus gerichtet, und als er erkannte, dass sie sang, nahm er die Finger aus den Ohren und ließ sich vom Klang ihres Schlafliedes einlullen:
Die Katze in der Wiege, das Baby im Baum,
Die Vögel, sie zetern, sie glauben es kaum.
Papa ist im Tunnel, ein Sturmwind naht,
Wohl dem, der jetzt eine Mama hat.
Sie kommt mit der Schürze, sie breitet sie aus,
Das Kind lässt sich fallen, sie gehen nach Haus.
Ihre Stimme war klar und ungekünstelt. Alle kannten Wiegenlieder, aber er? Woher kannte er welche? Waren ihm jemals welche vorgesungen worden, als er noch so klein war, dass er sich nicht daran erinnerte?
Als die Frau des Maats fertig war, schaltete sie das Gerät ab. Bald würde das Licht ausgehen, und sie zündete eine Kerze an. Als sie sich neben ihn setzte, leuchtete etwas in ihren Augen. »Das hat gut getan.« Sie seufzte. »Ich fühle mich schon viel leichter.«
»Du hast schön gesungen. Das kenne ich, das Wiegenlied.«
»Natürlich, jeder kennt das«, sagte sie. Sie legte die Hand auf den Karton. »Jetzt schleppe ich das die ganze Zeit mit mir herum, und du hast gar nicht gefragt, was darin ist.«
»Dann zeig’s mir«, erwiderte er.
»Mach die Augen zu«, sagte sie.
Er gehorchte. Als Erstes hörte er den Reißverschluss ihres Fabrikarbeiter-Overalls, dann, wie sie die Schachtel öffnete, dann das Rascheln steifen Satins, ein Wispern, als sie hineinstieg und der Stoff an ihren Beinen hochglitt, dann ein Flüstern, als er um ihren Körper wippte, die Schlangenbewegung, als er zurechtgerückt wurde, und schließlich das nahezu unhörbare Geräusch, als sie mit den Armen in die Ärmel schlüpfte.
»Jetzt darfst du gucken«, sagte sie, aber er wollte nicht. In seiner Vorstellung sah er ihre Haut aufblitzen, ganz entspannt, weil sie sich unbeobachtet wähnte. Sie vertraute ihm vollständig, und er wünschte, das würde nie zu Ende gehen.
Sie kniete sich wieder neben ihn, und als er die Augen schließlich öffnete, sah er, dass sie ein schimmerndes gelbes Kleid trug.
»So was tragen die im Westen«, sagte sie.
»Du bist wunderschön«, sagte er zu ihr.
»Komm, ich zieh dir das Hemd aus.«
Sie schob ihr Bein über ihn, und der Saum des gelben Kleids verhüllte seinen Rumpf. Sie hockte mit gespreizten Beinen über ihm und zog ihn an den Armen hoch. Sie fasstenach seinem Hemd, und als die Schwerkraft ihn wieder nach hinten zog, glitt er heraus.
»Von hier aus kann ich die Ohrringe sehr gut sehen«, sagte er.
»Dann brauche ich mir vielleicht doch nicht die Haare abzuschneiden.«
Er blickte zu ihr hoch. Auf ihrem schwarzen Haar glänzte das Gelb des Kleides.
Sie fragte ihn: »Und warum bist du nicht verheiratet?«
»Schlechter Songbun .«
»Oh. Hat jemand deine Eltern denunziert?«
»Nein«, antwortete er. »Die Leute glauben, ich wäre Waise.«
»Puh, wie übel«, entfuhr es ihr, und sie hielt sich sofort den Mund zu. »Oh, tut mir leid, das war nicht nett, wie ich das gesagt habe.«
Jun Do zuckte nur die Achseln.
Sie sagte: »Du hast eben gesagt, mein Mann sollte das
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