Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
und den alten Parteiboss in Chongwang – Männer, die sicher schon alles für ihre Ankunft vorbereiteten. Ob sie ein Foto von ihr gesehen oder ihre Geschichte erfahren hatten? Oder ob sie nur die tragische Nachricht aus dem Lautsprecher gehört hatten, dass ein Held den Haien zum Opfer gefallen war und eine schöne, junge Frau hinterlassen hatte?
Im Treppenhaus stiegen sie die endlosen Stockwerke hoch bis zum Dach, stießen die Brandschutztür auf und traten hinaus in das sternenbeschienene Dunkel. Die Hunde liefen frei herum und beäugten sie nervös. In der Dachmitte war ein Verschlag aus Fliegengitter, damit keine Insekten an das Hundefleisch kamen, das mit grobem Salz und grünem Pfeffer eingerieben zum Trocknen in der Seeluft hing.
»Schön ist es hier oben«, sagte er.
»Manchmal komme ich zum Nachdenken hier rauf«, sagte sie. Sie blickte hinaus übers Wasser. »Wie ist es da draußen?«, wollte sie wissen.
»Wenn man das Land nicht mehr sieht«, sagte er, »dann könnte man irgendjemand sein, von irgendwo. Als hätte man keine Vergangenheit. Alles da draußen ist unvorhersehbar, jeder Tropfen Gischt, der aufs Deck spritzt, jeder Vogel, der aus dem Nichts auftaucht. Über Funk sagen die Leute Sachen, die du dir nicht vorstellen kannst. Hier dagegen ist alles vorhersehbar.«
»Ich kann’s kaum abwarten zu hören, was aus deinem Radio kommt«, sagte sie. »Kriegst du die Popsender aus Seoul rein?«
»So ein Radio ist das nicht«, wiegelte er ab und steckte die Antenne durch den Maschendraht des Welpengeheges, was die kleinen Hunde in Panik versetzte.
»Das kapiere ich nicht.«
Jun Do warf das Antennenkabel so über den Dachüberstand, das sie es unten vom Fenster aus hereinholen konnten. »Dieses Radio empfängt nichts«, sagte er. »Es ist ein Sender.«
»Wozu?«
»Wir müssen eine Nachricht senden.«
Zurück in der Wohnung, schloss er mit flinken Fingern das Antennenkabel und ein kleines Mikrofon an. »Ich hatte einen Traum«, sagte er zu ihr. »Es klingt sicher komisch, aber ich habe geträumt, dein Mann hätte ein Funkgerät, er würde auf einem Floß sitzen und hinaus aufs glitzernde Meer treiben, das hell wie tausend Spiegel ist.«
»Aha«, sagte sie.
Jun Do stellte das Sendegerät an, und sie starrten beide auf den rötlichgelben Schein des Leistungsmessers. Er justierte die Frequenz auf 63 Megahertz und drückte die Sendetaste: »Dritter Maat an Zweiter Maat, Dritter Maat an Zweiter Maat, bitte kommen.« Jun Do wiederholte das, obwohl er wusste, dass der Zweite Maat ebenso wenig antworten konnte wie er ihn empfangen. Schließlich sprach er ins Mikrofon: »Ich weiß, dass du dort draußen bist, mein Freund. Du darfst nicht verzweifeln.« Jun Do hätte ihm erklären können, wie man einen einzelnen Kupferfaden von den Batteriekontakten abwickelt und das Drähtchen dann mit beiden Polen verbindet, wobei es sich so stark erhitzt, dass er sich daran eine Zigarette anzünden konnte. Jun Do hätte dem Zweiten Maat erläutern können, wie man sich aus den Spulen im UKW-Empfänger einen Kompass basteln kann oder dass der Kondensator in eine Folie gewickelt ist, mit der er wie mit einem Spiegel Notsignale senden konnte.
Doch was der Zweite Maat wirklich zum Überleben brauchte, war das Wissen, wie man Einsamkeit erträgt unddas Unbekannte aushält – damit kannte Jun Do sich ziemlich gut aus. »Schlaf tagsüber«, sagte Jun Do. »Nachts wird dein Kopf klar. Wir haben zusammen zu den Sternen aufgeschaut – zeichne jede Nacht ihren Stand auf. Wenn sie an der richtigen Stelle stehen, ist alles in Ordnung. Stell dir grundsätzlich nur die Zukunft vor, nie die Vergangenheit oder Gegenwart. Versuche nicht, dir Gesichter ins Gedächtnis zu rufen – du verzweifelst nur, wenn sie nicht klar werden. Wenn du aus weiter Ferne Besuch bekommst, dann sind das keine Gespenster. Behandle sie wie deine Verwandten, als Gäste, sei nett und stell ihnen Fragen.«
Jun Do fuhr fort: »Du brauchst ein Ziel. Der Kapitän hatte das Ziel, uns sicher nach Hause zu bringen. Dein Ziel muss es sein, stark zu bleiben, damit du das Mädchen retten kannst, das im Dunkeln rudert. Sie steckt in Schwierigkeiten und braucht deine Hilfe. Du bist der Einzige, der ihr helfen kann. Suche nachts den Horizont ab und halte Ausschau nach Lichtern und Leuchtkugeln. Du musst sie retten. Ich habe es nicht geschafft.
Es tut mir leid, dass ich dich im Stich gelassen habe. Ich sollte auf dich aufpassen, aber ich habe versagt. Du warst ein
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