Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
und hat mich gefragt, ob du nicht auf ein anderes Boot versetzt werden könntest.«
Jun Do starrte ihn fassungslos an.
»Er hat gesagt, dass er die Nase voll hat von Helden, dass er nicht mehr viele Jahre hat und er einfach seine Arbeit tun und Fische fangen will. Ich würde mich nicht drüber aufregen – der Kapitän ist zuverlässig, arbeitet hart, aber wenn man älter wird, dann ist man einfach nicht mehr so flexibel. Habe ich schon oft gesehen.«
Jun Do setzte sich. »Es ist wegen seiner Frau«, sagte er. »Das muss es sein. Das habt ihr ihm angetan. Ihr habt ihm seine Frau weggenommen.«
»Das bezweifle ich. Ich kenne den Fall nicht, aber sie warschon alt, oder? Es ist ja nicht so, als würden die Ersatzmänner nach einer alten Frau schreien. Der Kapitän kam ins Gefängnis, und sie hat ihn verlassen, so sieht das für mich aus. Wie der Geliebte Führer so gerne sagt: Die einfachste Antwort ist normalerweise die richtige .«
»Und die Frau des Zweiten Maats – ist das einer von Ihren Fällen?«
»Ein hübsches Mädchen. Die wird’s noch zu was bringen. Um die brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Hunde werden ihr nicht mehr über dem Kopf rumtraben, das ist schon mal klar.«
»Was wird aus ihr?«
»Ich glaube, ein Lagerkommandant in Sinpo steht oben auf der Liste, und in Chongwang gibt es einen pensionierten Parteikader, der sie unbedingt haben will.«
»Ich dachte, Mädchen wie sie würden nach Pjöngjang geschickt.«
Der Alte legte den Kopf schief. »Sie ist keine Jungfrau mehr«, sagte er schließlich. »Außerdem ist sie schon zwanzig und starrköpfig. Die meisten Mädchen, die nach Pjöngjang gehen, sind siebzehn – die haben gelernt zu spuren. Aber was kümmert’s dich? Du willst sie ja nicht etwa selbst haben, oder?«
»Nein, nein, ganz und gar nicht«, erwiderte Jun Do.
»Das würde zu einem Helden nämlich nicht so gut passen. Wenn du ein Mädchen willst, können wir dir ein Mädchen besorgen. Aber die Frau eines gefallenen Kameraden, das wird nicht gern gesehen.«
»Ich sag ja gar nicht, dass ich ein Mädchen will«, antwortete Jun Do. »Aber ich bin ein Held. Ich habe gewisse Rechte.«
»Privilegien«, korrigierte ihn der Alte. »Den einen oder anderen Anspruch darfst du anmelden.«
*
Den ganzen Tag lang bastelte er an dem Sendegerät. Am Fenster war das Licht gut. Er klopfte das Ende eines Drahts flach, um ihn als Uhrmacherschraubenzieher zu benutzen, und schmolz die dünnen Drähte aus Lötzinn über einer Kerzenflamme. Außerdem konnte er durchs Fenster den Kapitän im Auge behalten, der auf Deck auf- und ablief.
Gegen Abend kam sie strahlend und in bester Stimmung nach Hause.
»Wie ich sehe, funktioniert doch noch irgendwas an dir«, sagte sie.
»Wenn ich keine Fische zum Angucken habe, kann ich nicht im Bett liegen bleiben. Die waren wie ein Mobile.«
»Das würde ja einen schönen Eindruck machen«, sagte sie. »Wenn ich mit einem Koffer voller Fisch in Pjöngjang aufkreuzen würde.« Sie strich sich die Haare zurück, sodass ein neues Paar Ohrringe aus schmalen Goldkettchen zu sehen war. »Kein schlechtes Geschäft, oder? Jetzt muss ich mir die Haare hochstecken, damit man die Ohrringe auch schön sieht.«
Sie betrachtete den Sender. »Und, funktioniert’s?«
»Ja«, sagte er. »Ja, ich habe mir eine Antenne gebastelt. Aber wir müssen sie auf dem Dach installieren, bevor der Strom ausgeht.«
Sie schnappte sich die Nikes.
»Gut. Aber erst muss ich noch was erledigen.«
Langsam stiegen sie hinunter in die sechste Etage, kamen an Wohnungen vorbei, in denen Familien laut stritten, aber in den meisten war es unheimlich still. In diesem Stockwerk waren Wahlsprüche des Geliebten und des Großen Führers an die Wände gepinselt, daneben Bilder von Kindern, die aus den Liederbüchern der Revolution sangen, Bauern mit erhobenen Sicheln, die eine Pause von ihrer reichen Ernte einlegten und sinnend in das reine Licht immerwährender Weisheit blickten.
Die Frau des Zweiten Maats klopfte an eine Tür, wartete einen Augenblick und trat dann ein. Die Fenster waren mit Packpapier verklebt, und es stank käsig nach Muff, wie in den DMZ-Tunneln. Im Zimmer saß ein Mann auf einem Plastikstuhl und hatte seinen verbundenen Fuß auf einen Hocker hochgelegt. Dem Verband war anzusehen, dass keine Zehen darin Platz hatten. Er hatte einen Blaumann aus der Konservenfabrik an; auf dem Namensaufnäher stand »Arbeitsgruppenleiter Gun«. Guns Augen leuchteten auf, als er die Turnschuhe
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