Das geraubte Paradies
noch, vermutlich weißt du es sogar und hast entschieden, es zu ignorieren, weil dir dein eigener Wohlstand und dein Ruhm wichtiger sind als all die armen Teufel, die du in deiner Aufteilung der Menschheit gerne als Diener und Opfer bezeichnest. Die Inquisition foltert Invitros bestialisch zu Tode, während deine Kollegen vom Stadtrat in den Zuschauerrängen Häppchen verspeisen. Menschen, die einen Blick über den Tellerrand wagen, die der Wissenschaft statt dem Licht Gottes folgen wollen, werden schikaniert und gezwungen, ihrem aufrichtigen Wunsch, die Welt zu verbessern, im Untergrund nachzugehen. Unschuldige werden zu Sündenböcken, die den Massen zum Fraß vorgeworfen werden, damit niemand merkt, dass der Lux Dei schon lange kein Heilsbringer mehr ist, sondern uns vielmehr in Angst gefangen hält und uns den Aufbruch in eine bessere Zukunft verwehrt. Das Leid mag in Arcadion nicht so groß sein wie draußen im Ödland oder in der Wildnis. Aber den Preis dieses bescheidenen Wohlstands müssen all diejenigen zahlen, die dem Lux Dei nicht bedingungslos folgen.«
»Mir ist klar, dass Arcadion nicht perfekt ist, aber es gibt keine Alternative. Willst du lieber wie die Wilden in Ruinen hausen oder wie die Mutanten in Höhlen oder unter Büschen?«
»Die Ausgestoßenen leben nicht in Höhlen«, murmelte Jonan.
»Wie auch immer«, wischte sein Vater den Einwurf beiseite. »Was ich sagen will, ist dies: Du kannst und wirst das System niemals ändern, indem du willkürliche Akte des Vandalismus und der Gewalt begehst. Abgesehen davon kannst du mir nicht erzählen, dass deine Taten politisch motiviert gewesen wären. Du magst dir einreden, dass du ein Freiheitskämpfer bist, aber in Wahrheit hast du immer nur versucht, dieses verrückte Mädchen für dich zu gewinnen. Eine absurde Schwärmerei hat dir den Geist vernebelt, das ist alles.« Lucian Estarto beugte sich vor und sah ihn eindringlich an. »Jonan, es ist noch nicht zu spät für dich. Ich habe keine Kosten und Mühen gescheut, um mich für dich einzusetzen. Du bist mein Sohn, und trotz allem, was du getan hast, bist du mir teuer. Ich möchte dir helfen.«
»Und wie?«, knurrte Jonan.
»Zuerst einmal musst du schwören, dass du von nun an keine Dummheiten mehr begehst. Ich bringe dich ins Haus der Erleuchtung des Lux Dei. Dort wirst du Zeit haben, zu dir zu kommen und vor allem dich innerlich von dieser Carya zu lösen. Glaub mir, sie ist nicht das einzige hübsche Ding in Arcadion. Es gibt viele junge Frauen, die ausgesprochen apart sind, angenehm im Umgang und die vor allem einen Sinn für die Wirklichkeit haben. Ich werde dir helfen, eine zu finden, die dich glücklich macht, wenn es das ist, wonach du dich sehnst. Und auch deinen Idealismus werden wir in die rechten Bahnen lenken. In die Armee kannst du natürlich nicht zurück, aber es gibt Einrichtungen des Lux Dei, in denen Geläuterte sich für die Gesellschaft nützlich machen können. Du könntest im Hospital anfangen, oder wir bringen dich in der Verwaltung einer Fabrik unter. In beiden Fällen kannst du Menschen helfen, du kannst Leiden lindern und Arbeitsbedingungen verbessern. Und vielleicht findest du ja in ein paar Jahren deinen Weg in den Stadtrat. Es gibt Möglichkeiten, Arcadion zu einem besseren Ort zu machen – ohne Gewalt. Man muss nur geduldig sein und maßvoll. Das unterscheidet richtige Männer von jugendlichen Rabauken, die statt ihrem Kopf lediglich ihren brennenden Gefühlen folgen.« Sein Vater blickte ihn erwartungsvoll an. »Was sagst du?«
Du bist ein verdammt guter Redner,
dachte Jonan. Beinahe fühlte er sich tatsächlich schuldig. Hatte er die ganze Zeit nur aus egoistischer Schwärmerei gehandelt? Hätte er auch Himmel und Erde in Bewegung gesetzt und auf jedes Gesetz gepfiffen, wenn statt Carya ein altes Mütterlein unter absurden Anschuldigungen zum Tod durch den Strang verurteilt worden wäre?
Nein, nein, fang gar nicht erst an, darüber nachzudenken!,
ermahnte er sich. Genau das wollte sein Vater doch: dass Jonan zu zweifeln begann und sich, nach Führung suchend, erneut ihm verpflichtete. Aber selbst wenn Jonan sich fragwürdiger Handlungen schuldig gemacht hatte, hieß das nicht, dass der Lux Dei unschuldig war, ganz und gar nicht. Außerdem ging es im Augenblick überhaupt nicht um Arcadion. Es ging um eine Schlacht am Rand der Schwarzen Zone, die in einem Gemetzel enden würde, wenn Jonan nicht eingriff – einem Gemetzel, bei dem auch arcadische Soldaten
Weitere Kostenlose Bücher