Das geraubte Paradies
weitergezogen, um das Hauptquartier der Erdenwacht zu infiltrieren, aber sie sah ein, dass das zum gegenwärtigen Zeitpunkt blankem Leichtsinn gleichkam. Außerdem waren sie alle hundemüde, hatten sie sich doch, von Pitlit abgesehen, die gesamte letzte Nacht um die Ohren geschlagen. Also legte sich Carya auf ein altes Sofa, Emm verkroch sich in das einzige verbliebene Bett, Ferrer ließ sich auf einem knarrenden Schaukelstuhl nieder, und sie gönnten sich ein paar Stunden Schlaf. Pitlit hielt derweil Wache.
Als sie am späten Abend wieder aufwachten, knurrte ihnen allen der Magen. Leider gab es in ihrem Übergangsversteck nichts Essbares. »Ich sehe mal, was ich tun kann«, verkündete Pitlit und verschwand nach draußen. Es dauerte eine halbe Stunde, bis er wiederkam. Seine Ausbeute bestand allerdings lediglich aus zwei Overalltaschen voll mit Äpfeln und Pflaumen. »Das Einzige, was der Garten einen halben Kilometer die Straße hinunter hergegeben hat«, sagte er entschuldigend.
»He, es gab Zeiten, da wäre das ein Festmahl für uns gewesen«, erwiderte Carya lächelnd.
»Oh ja, ich denke mit Wehmut daran zurück«, bemerkte der Straßenjunge sarkastisch.
Um das Sofa versammelt, zu dem leider ein Tisch fehlte, aßen sie das Obst. Das einzige Licht, das sie hatten, stammte von der Taschenlampe der Zonengardisten, die sie aber erst einschalteten, nachdem sie unauffällig das Zimmerfenster verdeckt hatten. Niemand sollte mitbekommen, dass sich hier Leute aufhielten.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Emm, während sie an einer Pflaume knabberte. »Mir erscheint der bisherige Plan extrem gefährlich.«
»Inwiefern?«, fragte Carya.
»Nun ja, Julion und die anderen bauen allein darauf, dass du mit Ferrer imstande sein wirst, die
Hephaistos
zu sabotieren. Gut, dein Jonan ist unterwegs, um auf einem zweiten Weg ins Tal vorzudringen und den Rat zum Aufgeben zu zwingen, aber er war sich selbst unsicher, ob er rechtzeitig eintreffen wird.«
Ferrer runzelte die Stirn. »Worauf willst du hinaus?«
»Wir vergessen völlig, dass es noch eine dritte Möglichkeit gäbe, diesen Konflikt zu beenden. Gerade du, Ferrer, müsstest das wissen.«
»Vielleicht bin ich übermüdet. Hilf mir auf die Sprünge.«
»Ich spreche von den Invitros.« Das Gesicht der jungen Frau nahm im Schein der Lampe einen eindringlichen Ausdruck an. »Wir haben uns damals dem Erdenwacht-Widerstand angeschlossen, weil wir Freiheit und Gleichberechtigung für alle Invitros erreichen wollten. Wegen Julion haben sich aber unsere ganzen Bemühungen irgendwann darauf beschränkt, das Tal von außen zu befreien, mithilfe dieses Bündnisheeres. Dass wir genauso gut versuchen könnten, eine Veränderung von innen zu erreichen, haben wir dabei aus den Augen verloren.«
»Wir haben vor einem Jahr mit ein paar der Arbeiteranführer gesprochen, erinnere dich«, sagte Ferrer. »Sie wirkten nicht sehr angetan von unserer Idee, den Aufstand zu proben.«
»Weil sie Angst vor der Zonengarde hatten!«, entgegnete Emm. »Es fehlte ihnen an Selbstvertrauen. Sie haben nicht geglaubt, dass so ein Aufstand Erfolg haben könnte. Aber die Lage hat sich völlig verändert. Die Zonengarde kämpft am Westpass gegen gleich drei Reiche, die ebenfalls ihre Freiheit von der Erdenwacht einfordern. Dadurch werden nicht nur ihre Kräfte gebunden, es ist außerdem ein starkes Zeichen, dass sich die Welt im Wandel befindet. Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, dass auch die Invitros ihre Stimme erheben und Gehör verlangen.«
»Was soll uns das im Augenblick bringen?«, fragte Carya. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als Demonstrationen zu organisieren. Im Prinzip stimme ich dir ja zu, aber hat das nicht Zeit, bis wir diese Rakete ausgeschaltet haben?«
»Eben darauf will ich hinaus!«, erwiderte Emm. »Wir können uns das Eindringen in die Zentrale der Erdenwacht, dieses ganze Himmelfahrtskommando, ersparen, wenn es uns nur gelingt, auf friedlichem Weg genug Widerstand auf die Beine stellen. Dann muss der Rat doch erkennen, dass seine Zeit abgelaufen ist und eine neue Ära beginnt. Alles Kämpfen ließe sich beenden, wenn wir die Erdenwacht auf diese Weise dazu bringen könnten, sich zu ergeben und einem gleichberechtigten Zusammenleben aller Völker zuzustimmen.«
»Und wenn du scheiterst?«, fragte Carya. »Wenn die Invitros sich nicht erheben wollen? Oder wenn der Rat nicht einlenkt? Dann startet die Rakete, und zehntausend Menschen sterben. In dem Fall ist der Angriff
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