Das geraubte Paradies
sollte die Erdenwacht über die nächsten Tage hinaus fortbestehen, die Bewohner des Tals schon bald deutlich bessere Diebstahlsicherungen an ihren Fahrzeugen anbringen würden.
Auch bei ihrem zweiten Besuch verfehlte die unfassbare Größe des Bauwerks seine Wirkung auf Carya nicht. Gewaltig ragte die Doppelpyramide mit dem in der Mitte schwebenden, stilisierten Erdball vor ihnen auf. Vor dem dunklen Nachthimmel wirkte das von vielen Strahlern erhellte Bauwerk mit seiner Fassade aus Metall und Glas wie etwas aus einer anderen Welt, ein riesenhaftes Raketenflugzeug, das von den Sternen gekommen war, um in diesem Tal zu landen. Unwillkürlich musste Carya an das Bild denken, das offenbar so viele der Labore der Wissenschaftler hier zierte: die leuchtend blaue Erdkugel vor der Schwärze des
Weltraums
, wie Ziyi es genannt hatte. Ob einige der alten Erdenwächter einst die Sterne bereist hatten?
»Hier geht es rein«, sagte Ferrer an ihrer Seite und deutete auf einen Eingang, der sich im hinteren Bereich des Fundaments der linken Pyramide befand. Er zog sich die Schirmmütze, die Dawyn ihm gegeben hatte, tiefer ins Gesicht.
Im Grunde war ihre Tarnung hundsmiserabel. Sah man von den Overalls ab, hatten sie keine Möglichkeiten gehabt, ihr Aussehen nennenswert zu verändern. Die Zugangscodes, die Ferrer in ihre Invitro-Armbänder eingegeben hatte – nicht ohne Caryas zuvor noch einmal gründlich auf Peilsender der Zonengarde untersucht zu haben, bevor er es ihr wieder anlegte –, mochten ihnen überall Einlass gewähren. Aber sie brachten sie nicht an misstrauischen Wachen oder Vorarbeitern vorbei. Das war Caryas Aufgabe.
Ein letztes Mal überprüfte sie die beiden Elektroschockstäbe, die in den Taschen ihres Overalls steckten. Auch die Pistole, die Carya mit einem Gürtel fixiert unter dem Kleidungsstück bei sich trug, saß noch sicher und fiel nicht auf, wenn man sie flüchtig musterte. »Ich bin bereit«, bestätigte sie Ferrer.
Ohne Hast schlenderten sie auf die Tür zu. Die Codes in ihren Armbändern sollten dafür sorgen, dass sie sich für sie öffnete. Es klappte tatsächlich. Mit leisem Zischen glitten die Türhälften auseinander. Dahinter erstreckte sich ein schmuckloser, im kühlen Licht der Leuchtfelder an der Decke daliegender Korridor. Sie liefen zum nächstbesten Tisch, dann stellten sie sich davor hin und taten so, als hätten sie etwas zu besprechen. Viel Schauspielerei war nicht nötig. Der Gang war ohnehin leer.
Ferrer zog seinen tragbaren Rechner heraus, klappte den flachen Bildschirm auf, drehte ihn plötzlich um hundertachtzig Grad und legte ihn auf die Tastatur. Wie ein Blatt Papier hielt er den Rechner vor sich. Mit einigen raschen Eingaben direkt auf dem Bildschirm rief er den Notfall-Gebäudeplan auf. Er wählte die Etage aus, in der sie sich befanden, und verschob das Bild, bis er den Gang gefunden hatte, in dem sie unterwegs waren. Danach verkleinerte er die Ansicht wieder und suchte den Bereich, in dem sich das Silo befand. »Dort drüben«, sagte er und tippte auf eine Stelle des Plans.
Sie folgten dem Korridor, bogen um eine Ecke, und um eine weitere, wodurch sie einen zentralen Gang des Gebäudes erreichten, in dem stärkerer Betrieb herrschte. Mehrere Männer und Frauen in grauweißen Kombinationen und verschiedenfarbigen Overalls liefen an ihnen vorbei. Die eine Hälfte wirkte übermüdet, die andere schien es eilig zu haben. In der Mitte gab es einen markierten Bereich, auf dem zwei Männer mit diesen seltsamen Zweirädern vorbeifuhren, von denen Carya an ihrem ersten Tag im Tal auch eins auf der Straße gesehen hatte. Außerdem waren dort verschiedene Angestellte mit kleinen Karren unterwegs, auf denen unterschiedliche Güter transportiert wurden.
»Zum Glück arbeiten hier so viele Menschen«, raunte Carya Ferrer zu. »Da kennt der eine den anderen nicht.«
»Zumindest in den Hauptgängen sollten wir einigermaßen sicher sein, das stimmt«, pflichtete der Invitro-Techniker ihr bei. »Aber wenn wir in den Silobereich kommen, wird das nicht mehr so einfach.«
»Wieso ist es hier mitten in der Nacht eigentlich noch so voll?«
»In diesem Tal mag Nacht sein, aber auf der anderen Seite der Erde ist es Tag«, erklärte Ferrer. »Und die Erdenwacht muss ihr Auge ja auf alle Menschen richten.«
»Oh, richtig.« Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht.
»Trotzdem ist es hier nachts viel ruhiger als am Tag«, fuhr Ferrer fort. »Viele Stellen sind nur tagsüber besetzt. Du
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