Das geraubte Paradies
es zu verbergen, aber es fällt mir immer schwerer. Und eine Heilung gibt es nicht. Nicht in unserer Zeit.« Er hielt kurz inne, und obwohl seine Züge wie versteinert waren, glaubte Carya in seinen Augen den Wunsch zu erkennen, in einem anderen Jahrhundert geboren worden zu sein. »Ich habe Männer deinen lautlosen Tod sterben sehen. Die letzten Wochen waren furchtbar. Eine einzige Qual. So will ich nicht enden. Lieber kämpfe ich bis zum Schluss.«
»Die Waldmenschen«, begriff Carya. »Deshalb haben Sie den Frieden mit ihnen gebrochen.«
Denier nickte. »Ja. Ich will, dass sie kommen und mich holen. Und wenn ich dabei ein paar von ihnen mitnehmen und für die Schandtaten bestrafen kann, die sie im letzten Jahr verübt haben, umso besser.«
»Und wir …?«, begann Carya.
»Elje«, sagte er. »Ihr müsst euch um Elje kümmern, wenn ich nicht mehr bin. Deshalb habe ich euch das Leben gerettet, und ich bringe auch deinen Freund durch, und wenn ich alle Medizin in seinen Körper pumpen muss, die ich noch besitze. Doch im Austausch für euer Leben müsst ihr Elje mit euch nehmen, wenn die Waldmenschen kommen. Bis auf die Tatsache, dass sie nicht spricht, ist sie gesund. Und sie ist ein kluges Mädchen. Sie verdient ein besseres Leben, als ich es ihr noch bieten kann. Bitte, versprich es mir.«
Carya schluckte. Was für ein grausames Schicksal das Leben diesem jungen Mädchen zugedacht hatte. Erst waren Mutter und Bruder gestorben. Und nun würde Elje auch ihren Vater verlieren. Carya musste an ihre eigenen Eltern denken, an die Angst, die sie um sie gehabt hatte, als sie sich in der Hand des Lux Dei befunden hatten. Nur weil sie mit Jonan jemanden gehabt hatte, der bei ihr gewesen war und sich um sie gekümmert hatte, war es ihr überhaupt möglich gewesen, diese Tage durchzustehen. Also wie viel mehr brauchte jemand wie Elje eine Schulter, um sich daran auszuweinen, wenn sie miterleben musste, wie ihr Vater, der einzige Elternteil, der ihr geblieben war, starb? Carya spürte, wie ihr der Gedanke die Kehle zuschnürte.
Aber was machen wir dann mit ihr?
, fragte sie sich. Sie befanden sich auf dem Weg zu einem der gefährlichsten Orte des Kontinents, zumindest, wenn man den Geschichten glauben durfte. Dorthin konnten sie die Achtjährige unmöglich mitnehmen.
Wenn ich sie bloß zu meinen Eltern nach Bolonara schicken könnte. Oder zu Bonasse nach Paris.
Leider stand ihnen weder die eine noch die andere Option offen.
»Carya?«, unterbrach Denier ihre Gedanken. Ein merkliches Drängen lag in seiner Stimme.
Sie nickte. »Wir kümmern uns um sie, so gut wir können. Ich verspreche es.«
Irgendwie würden sie schon klarkommen. Sie mussten es einfach.
Am nächsten Morgen ging es Jonan schon ein klein wenig besser. Sein Gesicht hatte wieder Farbe angenommen, und er schwitzte auch nicht mehr so stark. Denier wechselte die Verbände und gab ihm eine weitere Spritze mit einem unbekannten Medikament. Dann verkündete er, dass er in den Wald gehen würde, um etwas zu essen zu beschaffen. Elje und Pitlit schlossen sich ihm an.
Es hatte den Anschein, als hätten die beiden am gestrigen Abend Frieden miteinander geschlossen. Zumindest wirkte das Mädchen nicht mehr ganz so abweisend wie zuvor. Elje sprach nach wie vor kein Wort. Das hatte Carya auch nicht erwartet. Aber zumindest lächelte sie ein paar Mal über Pitlits Scherze.
Der Straßenjunge seinerseits wirkte regelrecht aufgedreht. Er war offensichtlich froh darüber, jemanden um sich zu haben, der jünger war als er und den er mit seinen Geschichten beeindrucken konnte. Womöglich war Pitlit der Schlüssel zum Erfolg, Elje in ihre kleine Gruppe aufzunehmen. Genauso wie Denier sich durch ihn an seinen verstorbenen Sohn erinnert gefühlt hatte, mochte auch Elje sich leichter an einen neuen großen Bruder gewöhnen als an zwei fremde Erwachsene, so wohlmeinend sie auch sein mochten.
Dennoch wünschte Carya sich mehr Zeit, bevor das scheinbar Unvermeidliche geschah und es zum Kampf gegen die Wegelagerer kam. In der kurzen, eher unbequemen Nacht, die Carya auf dem Fußboden von Deniers Hütte verbracht hatte, war sie das Gespräch des gestrigen Abends noch einmal durchgegangen, und sie hatte darüber nachgedacht, Denier davon zu überzeugen, mit ihnen gemeinsam zu fliehen. Er konnte mit Elje nach Paris gehen, sie bei Bonasse abliefern und sich dann in den Straßen der Trümmerzone eine Bande suchen, die ihm ein finales Duell bot.
Doch dann bekam sie – noch halb
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