Das geraubte Paradies
dem Jonan an diesem Ort weit draußen in der Wildnis kaum gerechnet hätte.
»Templer Estarto«, begrüßte Julion Alecander ihn, als er ans Fußende von Jonans Pritsche trat. »So sehen wir uns wieder. Warum nur bin ich nicht so erstaunt, wie ich es sein sollte?« Der hochgewachsene, breitschultrige Mann, einer der zehn Paladine des Lux Dei, ragte, eingerahmt von den weißen Vorhängen, die Jonans Lager umgaben, wie ein Halbgott aus früheren Zeiten vor ihm auf. Seine Felduniform, die von einer weiß-goldenen Schärpe, dem Zeichen seiner Paladinswürde, geziert wurde, machte einen makellosen Eindruck. Sein kantiges Gesicht verriet nicht, was er dachte.
»Paladin Alecander.« Ächzend versuchte Jonan, sich etwas weiter aufzusetzen. Elje hob rasch ihre Wolldecke, rollte sie zusammen und schob sie Jonan hinter den Rücken. Er warf ihr einen dankbaren Blick zu, bevor er sich wieder an seinen Besucher wandte. »Was macht Ihr denn hier? Ich will sagen: Wie komme ich zu der Ehre Eures Besuchs?«
»Ich bin der höchste militärische Berater dieses Heereszugs, und das bedeutet – neben diversen Privilegien –, dass ich dem Kommandanten, General Palladio, Aufgaben abnehme, die ihn gegenwärtig nicht kümmern sollen. Etwa mich mit einem fahnenflüchtigen Soldaten zu beschäftigen, der auf der Abschussliste des Tribunalpalasts ganz oben steht.«
Jonans Gedanken rasten. Alecanders Worte waren nicht unbedingt dazu angetan, ihm Mut zu machen. Allerdings hatte der Paladin ihn erneut als Templer angesprochen, und das rief Erinnerungen an ihre Begegnung auf dem Fest des Mondkaisers wach, als er Jonan schon einmal überrascht hatte. Damals hatte Jonan den Paladin darauf hingewiesen, dass er kein Templer mehr war. »Ein Templer zu sein bedeutet mehr, als nur eine Uniform zu tragen«, hatte Alecander darauf geantwortet. »Es ist eine Frage des Mutes und der Aufrichtigkeit.« Es war ein äußerst seltsames Zusammentreffen gewesen, das erst dann etwas mehr Sinn ergeben hatte, als Jonan erfuhr, dass der Paladin zugleich ein Agent der ominösen Erdenwacht war und damit womöglich Ziele verfolgte, die über die des Lux Dei hinausgingen.
Das alles ging Jonan binnen Sekunden durch den Kopf.
Vielleicht
, so dachte er,
ist doch noch nicht alles verloren
. »Paladin, ich …«, setzte er an.
Alecander brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Warten Sie. Bevor Sie etwas sagen, Templer Estarto, möchte ich Ihnen eins erklären: Die Dinge, die hier geschehen, sind viel bedeutender, als sie Ihnen erscheinen mögen. Es ist daher von größter Wichtigkeit, dass der Verlauf der Ereignisse nicht gestört wird. Sie und Ihre Freunde neigen unerfreulicherweise dazu, genau das zu tun.«
Dem konnte Jonan nicht widersprechen. Ohne Caryas, Pitlits und sein Auftauchen auf Château Lune wären dort sicher einige Sachen anders gelaufen – andererseits keineswegs besser. »Wir haben Euer Bündnis mit dem Mondkaiser gerettet, wenn Ihr Euch daran erinnern mögt«, wandte er ein. »Botschafter Cartagena hatte das Messer sozusagen schon an der Kehle des Kaisers, und Ihr wärt gemeinsam mit der Sondergesandten Arida als die Schuldigen hingestellt worden.«
»Ich streite nicht ab, dass Ihr Handeln auf Château Lune sich letzten Endes vorteilhaft ausgewirkt hat, auch wenn ich den Verdacht habe, dass das nicht Ihr Plan war, sondern bloß eine Folge der Umstände, in die Sie hineingeraten sind. Oder um es einfacher auszudrücken: Sie hatten großes Glück, dass niemand von Ihnen gestorben ist und niemand, den ich noch brauche.«
»Worauf wollt Ihr hinaus, Paladin?«, fragte Jonan. »Ihr seht, dass ich ans Bett gefesselt bin. Ich glaube kaum, dass von mir in der nächsten Zeit viel Ärger ausgehen wird. Abgesehen davon, dass es wohl in Eurer Hand liegt, mich als Verräter am Templerorden hinrichten zu lassen.«
»Das wird sicher nicht geschehen«, gab Alecander zurück. »Der Handel, den Ihr Vater mit Großinquisitor Aidalon geschlossen hat, gilt nach wie vor, wenn auch nur deswegen, weil Carya die Sondergesandte umgebracht hat und nicht Sie. Ich nehme an, Sie können sich denken, dass der Großinquisitor sehr ungehalten darüber war, eine seiner besten Agentinnen zu verlieren.«
Das konnte sich Jonan in der Tat lebhaft vorstellen. Doch viel wichtiger an den Worten des Paladins war die Erkenntnis, dass er diese eine Angelegenheit vollkommen vergessen hatte:
Der Handel zwischen Aidalon und meinem Vater!
Ein absurdes Gefühl der Erleichterung
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