Das geraubte Paradies
brauchte er überhaupt nicht darüber nachzudenken, wie das Verdikt des Kommandanten aussehen würde. Man würde ihn an die nächste Hauswand stellen und standrechtlich erschießen. Seltsam genug, dass man ihn überhaupt vom Pass gerettet hatte, statt ihn dort sterben zu lassen. Vermutlich gab es Regeln, die dagegensprachen, einen zum Tode Verurteilten auf offener Straße verbluten zu lassen. Er musste aufrecht vor seinem Richter stehen, bevor er umgebracht werden durfte.
Jonan überlegte kurz, ob er versuchen sollte, Doktor Bramante zu überreden, ihn laufen zu lassen. Allerdings besaß er erstens nichts, was er ihm im Tausch dafür hätte anbieten können, und zweitens war Jonan zu stolz, um einen ehemaligen Mitsoldaten anzubetteln. Abgesehen davon hatte er all diese Verbrechen tatsächlich begangen, auch wenn er sich im Recht sah, da der Lux Dei – oder zumindest dessen inquisitorischer Arm – verrottet und böse war. Aber man konnte dem Feind schlecht sagen, dass er die eigentliche Schuld trug und einen bitte verschonen solle, weil man doch der Gute sei.
Also nickte Jonan nur grimmig. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Sagen Sie mir bloß bitte, dass Ihr Kommandant nicht Großinquisitor Aidalon ist.«
Bramante hob die Augenbrauen. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich dachte, er könne an diesem Kriegszug gegen den Ketzerkönig vielleicht ein persönliches Interesse haben«, antwortete Jonan und zuckte mit den Schultern. »Und, na ja, Sie wissen vermutlich, dass uns eine unerfreuliche Vergangenheit verbindet.«
»Wer in Arcadion weiß das nicht?«, gab der Arzt mit einem Grinsen zurück und bestätigte damit Jonans schlimmste Befürchtungen bezüglich seiner eigenen fragwürdigen Berühmtheit unter den Soldaten. »Aber ich kann Sie beruhigen. General Palladio hat hier den Oberbefehl. Ich habe keine Ahnung, wo der Großinquisitor sich herumtreibt, aber er gehört nicht zu diesem Heereszug.«
Das war in der Tat eine Erleichterung für Jonan. Er hatte bereits das Schlimmste befürchtet – nicht dass es einen großen Unterschied machen würde, ob Palladio oder Aidalon ihn verurteilte.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Estarto«, fuhr Bramante fort und zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, »ich habe nichts gegen Sie. Na gut, Sie sind ein Deserteur und Sie haben der Tribunalpalastgarde den Arsch aufgerissen. Aber das schert mich nicht. Ich bin weder blind, noch schreie ich jedes Mal Hurra, wenn ein Priester einen göttlichen Wind fahren lässt. Will sagen: Mir ist klar, dass in Arcadion nicht alles richtig läuft, und vielleicht braucht es sogar Leute wie Sie, damit auch der Rest das erkennt. Doch wir befinden uns im Krieg, und ich habe bestimmt nicht vor, mir irgendwas anhängen zu lassen, weil ich nicht nach Vorschrift gehandelt habe.« Bramante ließ den Zigarettenstummel fallen und trat ihn auf dem Hallenboden platt, bevor er ihn mit der Fußspitze unter Jonans Bett kickte. »Bis gleich. Oh, und ich rate Ihnen dringlich, liegen zu bleiben. Ihre Hüfte ist noch nicht einmal ansatzweise verheilt. Darüber hinaus stehen Wachen drüben am Eingang, die schon die ganze Zeit misstrauisch zu mir herüberschauen. Sie kämen also nicht weit, wenn Sie es drauf anlegten.«
»Verstanden«, bestätigte Jonan düster. »Aber Doktor, tun Sie mir einen Gefallen.«
Bramante sah ihn abschätzend an. »Solange es mir keine Schwierigkeiten bereitet.«
»Es geht um Elje«, sagte Jonan und warf dem Mädchen einen Seitenblick zu, das ihrem Wortwechsel mit stummem Unverständnis gefolgt war. »Bitte sorgen Sie dafür, dass ihr nichts passiert. Sie ist ein unschuldiges Kind und hat mit den Dingen, die ich mir dem Gesetz nach habe zuschulden kommen lassen, absolut nichts zu tun. Lassen Sie sie einfach bei der nächstbesten Siedlung, sollte mir etwas zustoßen. Würden Sie das für mich tun?«
Der Doktor grinste und entblößte dabei vom Tabak fleckige Zähne. »Selbstlos bis zuletzt, was, Estarto? An Ihnen wäre ein guter Templersoldat verloren gegangen, wenn Sie nur nicht so blöd gewesen wären, sich mit der Obrigkeit anzulegen.« Er nickte. »Aber gut, ich bin einverstanden. Ich passe auf, dass dem Mädchen nichts geschieht – soweit es in meiner Macht steht.«
»Danke«, sagte Jonan, und er meinte es.
Etwa zwei Stunden später – Doktor Bramante hatte Jonan und Elje, die nicht von seiner Seite wich, inzwischen etwas zu essen gebracht und sich noch einmal Jonans Verbände angeschaut – kam ein Mann vorbei, mit
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