Das geraubte Paradies
schlief. Genau genommen schien sie gerade aufzuwachen, denn sie wälzte sich unruhig hin und her, rieb sich dann über die Augen und gähnte. Ihr schulterlanges, aschblondes Haar hing völlig zerzaust um ihren Kopf. Im nächsten Moment blickte sie auf und Jonan mit ihren hellen, eisgrauen Augen direkt an.
Eine Sekunde später hielt ein Strahlen auf ihrer Miene Einzug. Ihre Augen begannen zu leuchten, und ihr Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Rasch kam Elje auf die Knie und umarmte Jonan stürmisch.
»Autsch, Vorsicht«, entfuhr es Jonan, aber gleichzeitig musste auch er grinsen, und er erwiderte die Umarmung behutsam.
»Wie ich sehe, ist der verlorene Sohn erwacht«, sagte eine Stimme vom Gang her. Sie gehörte einem untersetzten Mann mit eingefallenem Gesicht und schwarzem Kraushaar, in das sich erste graue Strähnen schlichen. Er hatte die grünbraune Felduniform eines Templersoldaten an und trug eine Armbinde mit einem roten Templerkreuz, das ihn als Arzt auswies. Jonan hatte also richtig getippt. Er lag im Lazarett der Lux-Dei-Truppen. Auf dem Namensschild des Mannes stand Bramante, und er rauchte eine Zigarette, was an einem Ort wie diesem sicher verboten war.
»Der verlorene Sohn?«, wiederholte Jonan verwirrt Bramantes Worte.
»Genau«, erwiderte dieser. »Sie sind doch Jonan Estarto, oder etwa nicht?«
Jonans Herz machte einen Satz und schlug schmerzhaft heftig in seiner Brust, als er seinen Namen hörte. Man hatte ihn also nicht nur ins Lager der Armee von Arcadion gebracht, seine Retter wussten zudem bereits, wen sie da – vermutlich halb tot – oben auf dem Pass aufgelesen hatten. Da Jonans Konterfei noch vor ein paar Monaten alle Straßen Arcadions geziert hatte, war es sinnlos, seine Identität zu verleugnen.
»Doch, der bin ich«, gestand er daher zähneknirschend.
»Na also«, sagte Bramante und zog an seiner Zigarette. Dass direkt neben ihm ein Verletzter und ein achtjähriges Mädchen saßen, schien ihn nicht zu stören. »Willkommen im vorgeschobenen Heerlager Bourg-Saint-Maurice. Ich bin Doktor Bramante, was Sie vermutlich schon an meinem Namensschild erkannt haben, und herrsche über diese prachtvolle Halle der Heilung, deren erster und einziger Gast Sie übrigens sind. Das Personal war völlig aus dem Häuschen, als Sie eintrafen.« Sein Tonfall legte den Verdacht nahe, dass mindestens der letzte Satz sarkastisch gemeint war.
»Und wie bin ich hierhergekommen?«, wollte Jonan wissen. »Hat Elje …?« Er blickte zu dem Mädchen hinüber.
Bramante nickte. »So sieht’s aus. Sie tauchte vorgestern am späten Abend plötzlich im Lager auf und wirkte sehr aufgeregt. Sprach kein Wort. Die Männer wollten sie erst wegscheuchen, aber plötzlich hielt sie ein Kampfmesser in den Händen, das eindeutig aus Templerbeständen war. Und nach ein wenig Hin und Her begriffen wir auch, dass sie uns sagen wollte, es läge ein Verletzter draußen in der Wildnis. Erst dachten wir noch, es sei einer unserer Aufklärer. Umso überraschter waren wir, als das Mädchen unseren Motorwagen hinauf zum Pass führte, mitten in die tote Einöde, wo wir Sie vorfanden, niedergeschossen und ohne Bewusstsein.«
Der Arzt nahm erneut einen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch in Richtung Hallendecke. »Sie hatten verdammtes Glück. Die Kugel, die sie erwischt hat, ist am Beckenknochen seitlich abgeprallt, und es wurde nichts Lebenswichtiges verletzt. Ich habe Sie dann erst mal versorgt und Ihnen zwei von den Wundermittelchen reingejagt, die Sie in Ihrer Tasche dabeihatten. Keine Ahnung, wo Sie das Zeug nach all den Jahren gefunden haben, aber danken Sie dem Licht Gottes dafür. Übrigens war ich so frei, den Rest für das Lazarett zu konfiszieren. Ist ohnehin kaum noch was übrig. Nun ja …«, er zuckte mit den Achseln, »… und schließlich haben wir Sie hergebracht, wo Sie den Rest der Nacht und einen ganzen Tag durchgeschlafen haben. Jetzt haben wir fünf Uhr früh, und wie es aussieht, muss ich nun den Kommandanten informieren, damit er entscheidet, was mit Ihnen passieren soll.«
Seine Worte riefen Jonan in Erinnerung, wie brenzlig seine Lage wirklich war. Er galt als Fahnenflüchtiger, hatte Eigentum der Tribunalpalastgarde gestohlen – und mit seiner Templerrüstung und dem
Phantom
-Hubschrauber auch noch verdammt wertvolles –, er hatte einer Mörderin zur Flucht verholfen und war selbst für den Tod mehrerer Soldaten und des Inquisitors Loraldi mitverantwortlich. Eigentlich
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