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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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uns auf der Erde saß. Das genügte dann auch. Und allmählich gewöhnten wir uns an ihn.
    Er machte dafür unsern Kübel sauber. Einer mußte das. Pauline hatte zu gepflegte Finger dazu. Liebig tat es einfach nicht. Meistens hatte ich den Kübel saubergemacht. Ich hatte mir dann dazu Mut angeredet. Und unter Vorwänden wie ‹Es ist doch alles Scheiße› oder ‹Arbeit adelt› hatte ich mich dann überwunden. Jetzt machte der Pole das. Was er für Vorwände gebrauchte, wußte ich nicht. Sie müssen sehrpositiv gewesen sein, denn er machte den Kübel sehr gründlich, das fanden wir alle. Er machte das wohl auch ganz gern, denn er summte dabei leise. Lustige Sachen auf polnisch. So gewöhnten wir uns langsam an ihn, an sein Abziehbild, sein Beten, seinen Geruch. Wir gewöhnten uns an Polen.
    Wir gewöhnten uns sogar an seine roten Fußlappen. Er hatte zwei wunderbare blutrote Fußlappen aus selbstgewebtem Leinen. Johannisbeergrützenrot. Die wickelte er abends sorgfältig ab, faltete sie zusammen, erst den linken, dann den rechten, legte sie dann beide übereinander und so auf seinen Strohsack ans Kopfende. Dann ging er mit seinem Abziehbild in die Ecke, stellte es auf seinem Schemel gegen den Trinkbecher und betete laut und polnisch. Dann grinste er jedem von uns zu und legte sich hin. Dabei schob er sich seine beiden johannisbeerroten Fußlappen als Kopfkissen unter den Kopf. Das sah natürlich sehr hübsch aus, das blonde Haar auf dem Johannisbeerlappen. Wir hätten ihn am liebsten erschlagen, als wir das am ersten Abend zum erstenmal erlebten. Liebig machte schon den Mund auf, um wieder Polen zu sagen. Aber dann ließ er es. Nur seine Nasenflügel bewegten sich etwas. Das genügte dann auch. Aber mit der Zeit gewöhnten wir uns auch an die Fußlappen. Und an das Kopfkissen.
    Als sie mit den Essenkannen kamen, war er gerade beim Beten. Plötzlich drehte er uns aus seiner dunklen Ecke sein kleines fades Gesicht zu und rief mitten aus seinem Mariasingsang heraus: Marmelade! Wir wußten nicht, was er meinte. Es hätte ja auch polnisch sein können. Aber da sprang er wütend auf. Polnisch sprang er auf, drückte Liebig die Porzellanschüssel in die Hand und schrie: Marmelade! Marmelade! Bitte, um Gott!
    Dann drehte er sich um, sackte in die Knie und betete schon wieder. Aber da stieß Liebig ihn von hinten an. Mitdem Fuß. Und dann hielt Liebig seine längste Rede in der Zelle 432. Er versuchte, um den Polen zu reizen, ihm dabei seine Sprache nachzuäffen.
    Was? schrie Liebig, du elender Krüppel, du! Du erzmasurische Wildsau! Du Heuchler, du! Marmelade, schreist du, Marmelade? Wir denken, du betest und bist im achten Himmel mit deiner dünnbusigen Madonna! Und dabei spitzt du die Ohren, was es wohl zu fressen gibt, wie? Dabei hörst du nur Marmelade, du verfressenes Stück Polen, du!
    Der Pole stand auf. Er sagte sehr sanft und geduldig: Was willst du? Ein Ohr drinnen, ein Ohr draußen. Marmelade draußen. Maria drinnen. Dabei drückte er das Bild gegen seinen Drillichanzug. Da, wo das Herz war.
    Liebig sagte nichts. Er gab mir die Marmeladenschüssel. Aber er sah mich nicht an. Eine Viertelstunde später schlossen sie die Zellen auf. Es gab Kaffee. Es gab Brot. Und heute gab es keinen Käse. Es gab Marmelade.
    Aber er war auch nachts mit Maria zugange. Nachts ließen uns die Wanzen nicht schlafen. Und die Frauen nicht, die smaragdäugigen, katzengliedrigen. Die Wanzen stanken süß wie Marzipan, wenn man sie zerdrückte. Sie rochen nach frischem Blut. Wie Frauen rochen, das war schon lange her. Die Frauen machten uns still nachts. Aber die Wanzen ließen uns fluchen, bis es hell wurde. Nur der Pole fluchte nicht. Aber in einer hellen Nacht sah ich, daß er sein Bild in der Hand hielt. Und wenn wir mit unsern Flüchen den Dreck der ganzen Welt umrührten, dann sagte er höchstens mal leise vor sich hin: Maria, Maria. Gegen Hellwerden rasselten manchmal Enten vorbei, mit verrostetem Flügelschlag, zum nächsten Kanal. Dann stöhnte Liebig jedesmal, jedesmal stöhnte er: Mensch, wenn man so ’ne Ente wär. Und dann war wieder alles voll Wanzen und Flüchen und Frauen. Nur der Pole sagte dann heimlich: Maria, Maria.
    Eine Nacht wachten wir auf, weil die Tür von unserem Geschirrschrank knarrte. Es war der Pole. Er stand da und kaute. Wir wußten genau, daß er abends alles aufgegessen hatte. Er aß abends immer alles auf. Jetzt stand er da und kaute. Liebig sprang vom Strohsack hoch und griff ihn bei den Haaren. Aber

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