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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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bevor er etwas tun konnte, sagte der Pole: Was willst du machen? Hungä! Da ließ Liebig ihn los, legte sich wieder hin und sagte kein Wort mehr. Aber nach einer halben Stunde hörte ich dann doch, wie er vor sich hin fluchte. Polen, sagte er. Mehr nicht.
    Aber tagsüber hatten wir es schwer mit ihm. Immer wenn am Ende unseres Korridors ein benagelter Schritt hörbar wurde, fing der Pole leise und schnell seinen Singsang an. Er war zum Tode verurteilt. Immer wenn draußen ein Wachtposten vorbeiging, wurde er abgeholt. Immer wenn der Wachtposten vorüber war, durfte er noch leben bleiben. Bis zum nächsten Wachtposten. Er wurde tausendmal am Tag abgeholt. Und tausendmal am Tag durfte er leben bleiben. Denn sie gingen den ganzen Tag vorbei. Und immer wenn einer vorbei war, brach der Pole seinen Singsang ab, atmete, und dann sah er uns an und sagte: Maria, alles Maria. Er sagte das wie: Na, seht ihr, sie hilft immer, das gute Mädchen. Und er mußte das oft sagen am Tag, das Maria, denn sie gingen den ganzen Tag vorbei. Und immer wenn sie vorbei waren, sagte er seelenruhig: Alles Maria. Und es hörte sich an wie: Na also. Und es machte uns verrückt. Und er grinste dabei. Aber über seinen Augenbrauen war eine Postenkette aufmarschiert: kleine helle Wassertropfen.
    Einmal holten sie ihn dann doch. Er war sehr erschrocken. Und er kriegte das Grinsen nicht mehr hin. Er stand nur und war maßlos erstaunt. Wir hätten ihn am liebsten erschlagen.
    Mitten in der Nacht zog Liebig plötzlich laut die Luft ein. Dann sah er auf den leeren Strohsack. Ich finde, es riechtimmer noch nach Polen, sagte er. Und dann sagte er: Und jetzt ist er weg. Pauline und ich, wir sagten nichts. Wir wußten, Liebig tat es leid, daß er den Polen gehaßt hatte.
    Nach vier Monaten wurde ich entlassen. Ich mußte noch in den Keller runter zur Bekleidungskammer und meine Wäsche abgeben. Der Keller wurde gerade geschrubbt. Zwanzig Gefangene lagen auf den Knien und rieben mit Stahlspänen den Fußboden ab, damit der Gang hell und freundlich wurde. Plötzlich zupfte mich einer an der Hose. Ich sah runter. Es war der Pole. Er grinste mich von unten her an:
    Begnadigt, flüsterte er, begnadigt! Fünfzehn Jahr, nur fünfzehn Jahr! Und dann strahlte er und strich über seine Tasche: Maria, flüsterte er, alles Maria. Und dabei machte er ein Gesicht, als hätte er die Justiz ganz gewaltig übers Ohr gehauen. Er hatte es. Die Justiz der ganzen Welt.

Hinter den Fenstern ist Weihnachten
    Im Bunker hält man das nicht aus. Und als dein Gesicht von dem Auto hellgemacht wurde, sah ich, daß du blaue Schatten um die Augen hast. Vielleicht ist das eine, bei der man’s leichter hat, dachte ich. Deswegen laufe ich hinter dir her.
    Wir beide sind ganz allein in der Stadt. Hinter den Fenstern, da ist Weihnachten. Manchmal sieht man hinter den Gardinen die Kerzen vom Tannenbaum. Im Bunker könnte man das jetzt nicht aushalten, wenn sie singen. Du hast blaue Schatten unter den Augen. Vielleicht bist du eine von denen, die abends unterwegs sind. Die Schatten hast du von der Liebe. Aber jetzt sind sie ganz anders, jetzt singen sie Weihnachtslieder und schämen sich, weil sie weinen müssen. Ich bin weggegangen.
    Ob du ein Zimmer hast? Und einen Tannenbaum? Mein Gott, wenn du ein Zimmer hättest? Merkst du, daß ich hinter dir hergehe? Wir sind ganz allein in der Stadt. Und die Laternen stehen Posten. Die Posten haben Zigaretten, weil heute Weihnachten ist, und die glimmen im Finstern: Hörst du, hinter den Fenstern machen sie Weihnachten. Sie sitzen auf weichen Stühlen und essen Bratkartoffeln. Vielleicht haben sie sogar Grünkohl. Aber dann sind sie reich. Aber sie haben ja auch Gardinen, dann haben sie auch Grünkohl. Wer Gardinen hat, ist reich. Nur wir beiden sind draußen. Du hast blaue Schatten an den Augen, das hab ich gesehen, als das Auto vorbeifuhr. Ich möchte, daß du die Schatten von der Liebe hast. Ich weiß sonst nicht, wohin. Im Bunker singen sie. Das hält man nicht aus.
    Immer wenn eine Laterne kommt, seh ich deine Beine. Da kann man schon allerhand dran sehen, wie die Beine sind. Die andern reden auch immer von den Beinen bei ihren Weibern. Sie sagen immer Weiber. Wenn sie abendsnach Hause kommen, reden alle von ihren Weibern. Weiber, sagen sie immer. Immer bloß so Weiber. Die ganze Bude ist dann voll davon, wenn sie von den Beinen reden, von ihrer Brust und der rosa Unterwäsche.
    Merkst du nicht, daß ich immer hinter dir hergehe? Immer wenn eine

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