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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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den niederschmetternden Anklagen des Gerichts völlig zusammengebrochen, umwogt von undurchdringlichen Nebeln seelischer Düsterkeit, mit leerem Magen und angezogenen Knien in meiner Zelle und stierte mit geradezu fakirhafter Gelassenheit gegen eine der schmucklosen Wände, als plötzlich unmittelbar vor meinen verfinsterten Augen eine kleine, ganz gewöhnliche Stubenfliege an der Wand saß. Vielmehr sie stand, denn eine Fliege kann sich ja gar nicht setzen. So plötzlich war sie da wie ein Tintenklecks im Mathematikheft.
    Blitzschnell erinnerte ich mich der grauen Vorzeit, in die die Tage meiner Kinderstube einmal gefallen sein müssen, und ich fragte sie höflich, womit ich ihr dienen könne. Sienahm gar keine Notiz von mir und strafte mich mit einer Verachtung, wie es eben nur eine Fliege kann. Wußte sie von meinem Fall? Aber nein – sie hatte sich diese ruhige Stelle nur erwählt, um sich ein paar Minuten ungestört der kosmetischen Pflege hingeben zu können, und dabei lassen sich Damen im allgemeinen nicht gerne stören. Ich war aber trotzdem nicht Kavalier genug, um artig wegzusehen, sondern ich sah ihr ganz ungeniert zu. Und mein kleines Fliegenfräulein schien sich ihrer Reize durchaus bewußt zu sein; denn sie ließ mich wortlos gewähren und schüttelte nur einmal kurz und verächtlich mit den Schultern. Sie fuhr nun mit einigen ihrer Beine zärtlich unter die gläsernen Flügel und strich sie sorgsam glatt – so wie ungefähr eine Tänzerin ihr durchsichtiges Ballettröckchen zurechtstreicht – aber natürlich nicht mit den Beinen. Nachdem sie sich durch einen schnellen Ruck ihres merkwürdigen Kopfes davon überzeugt hatte, daß die Flügel nach dem letzten Chic und gut auf Taille saßen, wandte sie sich eifrig ihren Füßen zu, mani- und pedikürte mit einer Intensität drauflos, als ob sie heute noch einen Fliegenbaron oder einen steinreichen Brummer betören müßte. Nur ob sie ihre Fuß- und Fingernägel blau oder rot lackierte, konnte ich wegen der mangelnden Beleuchtung nicht feststellen. Wieder machte sie diese ruckartige Bewegung mit ihrem Kopf, und nachdem sie das dritte Bein von links noch einmal flüchtig nachpoliert hatte, wandte sie sich dem Make-up ihres Gesichtes zu. Verflixt, ich muß gestehen, daß mir der helle Angstschweiß ausbrach bei ihren Verrenkungen, denn ich fürchtete jeden Augenblick, daß sie sich den Kopf aus dem Gelenk drehen würde – und was ist eine Fliege ohne Kopf? Nachdem sie sich das kurze Haupthaar energisch mit dem rechten Vorderfuß zurückgestrichen hatte, nahm sie den Kopf zwischen die beiden Vorderbeine und fing an, ihren ohnehin schon stecknadelschlankenHals zu massieren, daß mir vor Spannung der Atem wegblieb. Aber endlich hatte sie auch das geschafft, und sie ging zur Augenpflege über. Nachdem sie sich die Wimpern gründlich ausgebürstet hatte, zog sie die Brauen noch einmal sorgfältig nach, wobei sie es doch nicht unterlassen konnte, mir einen kleinen koketten Seitenblick zuzuwerfen. Und dann, ein Zittern ging durch ihren Körper – anscheinend puderte sie sich noch einmal über –, dann war sie fertig und spazierte selbstgefällig einige Schritte vor meiner Nase auf und ab.
    Ich weiß nicht, wie es kam – aber das muß mich irgendwie gereizt haben. Ist es nun ein uralter, typisch männlicher Wesenszug, ist es der Jagdtrieb oder ist es nur ein Rückfall in die Flegeljahre? Jedenfalls nahm meine Hand bei dem herausfordernden Gebaren der Fliege unbewußt die bekannte, charakteristische Haltung zum Fliegenfangen an und schob sich mit Vorsicht näher an das scheinbar ahnungslose Opfer heran. Und da fing auch mein Verstand an, einige erklärende Gedanken von sich zu geben. Vielleicht wollte er das sonderbare Gehabe meiner Hand rechtfertigen. Jedenfalls dachte ich: So wie man mich gefangen hat, so werde ich dich jetzt fangen, du winzige Fliege – ich will auch mal Schicksal spielen. Ich will dein Schicksal sein, und gleich werde ich über Tod und Leben entscheiden. Aber so dachte ich nur; denn als meine also schicksalsträchtige Hand nun plötzlich gottähnlich zugreifen wollte, tappte sie genarrt ins Leere – und der kleine schwarze Tintenklecks saß, als ob nichts geschehen wäre, nur wenige Zentimeter höher an der Wand, gerade so hoch, daß ich ihn nicht mehr erreichen konnte.
    Resigniert wollte ich wieder in meinen Stumpfsinn zurückfallen, da durchfuhr es mich wie ein Blitz mit grauenhafter Beklemmung: Hatte die Fliege nicht eben gegrinstund

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