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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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mir mit ihrem blödsinnigen Kopf nachsichtig zugenickt? Gerade wollte ich ihr meinen Stiefel mitten in das höhnische Gesicht schleudern, da sprach sie mich an – mit einer etwas dünnen und sehr sachlichen Stimme, der aber doch eine gewisse Lebensweisheit nicht fehlte –, sie erinnerte mich an meinen alten Religionslehrer. – Siehst du, sagte sie, du wolltest mein Schicksal sein und jetzt bin ich dir entwischt, du Dummkopf? Man muß nämlich über seinem Schicksal stehen, wenn es auch nur wenige Zentimeter sind, gerade so viel, daß es einen nicht mehr erreicht und in die Tiefe reißen kann. Begreifst du das? – Du hast mich ausgelacht, Fliege! brauste ich auf. – Das ist es ja eben, antwortete sie kühl, man muß über sein Schicksal lächeln können. Siehst du, du Einfaltspinsel, und dann entdeckt man, daß das Leben vielmehr Komödie als Tragödie ist. – Sie setzte sich in Positur, nickte mir noch einmal flüchtig zu, und damit war sie auf und davon – so plötzlich, wie sie gekommen war.
    Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich habe gefunden, daß die Fliege recht hat: Man muß über seinem Schicksal stehen! Ich habe noch oft an meine kleine Fliege gedacht, die wie ein Sonnenstäubchen in meine Dunkelheit geflogen kam, und ich habe ihr nachträglich noch einen Namen gegeben. Ich habe sie Ching Ling genannt. Das ist chinesisch und heißt: Die glückliche Stimmung.

Maria, alles Maria
    Als er dann seine Stiefel auszog, hätten wir ihn am liebsten erschlagen.
    Als er in unsere Zelle kam, roch es plötzlich nach Tier und Tabak und Schweiß und Angst und Leder. Er war Pole. Aber er war so geistlos blond wie ein Germane. Und diese blonden Männer waren immer etwas fade. Er auch. Und auch noch ein wenig fadenscheinig. Er konnte nur wenige Worte deutsch. Aber er hatte ein schönes buntes Abziehbild in der Tasche. Das betete er immer sehr lange an. Er stellte es dann auf seinen Schemel gegen den Trinkbecher. Er betete laut und auf polnisch. Das Abziehbild hatte einen goldenen Rand und war sehr bunt. Ein Mädchen war da drauf mit einem roten Tuch und einem blauen Kleid. Das Kleid war offen. Eine Brust war zu sehen. Weiß. Sie war reichlich mager. Aber zum Beten mochte sie genügen. Vielleicht war sie auch nur als Requisit gedacht, die weiße Brust. Außerdem hatte das Mädchen noch einige Sonnenstrahlen um den Kopf. Aber sonst sah sie ziemlich stur aus. Wir fanden das jedenfalls.
    Aber der Pole sagte Maria zu ihr. Und dabei machte er eine Handbewegung, als wollte er sagen: Na, is se nich ’n prächtiger Kerl! Aber er meinte wohl etwas Zärtlicheres, wenn er uns angrinste und Maria sagte. Vielleicht sollte es ein sanftes, frommes Lächeln werden, aber wir haßten ihn so sehr, für uns war das eben Grinsen. Er sagte: Maria. Aber als er am ersten Abend seine Stiefel auszog, hätten wir ihn am liebsten erschlagen. Er brauchte eine Stunde dazu, er hatte Handschellen um. Es ist schwer, mit Handschellen die Stiefel auszuziehen. Es ist schon übel, wenn man sich mit Handschellen im Gesicht kratzen muß. Und dann hatten wir nachts die Wanzen. Und der Pole hatte auch nachtsseine ‹Manschetten› um. Er war zum Tode verurteilt. Als die Stiefel neben ihm lagen, machte sich ein toller Geruch in unserer Zelle bemerkbar. Er machte sich an uns heran wie ein aufdringlicher Zigeuner, frech, unwiderstehlich, scharf, heiß und sehr fremd. Man kann nicht sagen, daß er unbedingt übel war. Aber wir waren ihm ausgeliefert. Er war anmaßend und tierisch. Ich sah Liebig an. Der Pole saß zwischen Pauline, Liebig und mir auf der Erde. Liebig sah mich an. Polen, sagte er dann und starrte wieder aus dem Fenster. Liebig stand die ganzen Wochen auf Zehenspitzen und starrte aus dem Fenster. Drei- oder viermal am Tag sagte er was. Als der Neue die Stiefel auszog, sagte Liebig: Polen. Und dabei sah er mich an, als müsse er weinen.
    Allmählich gewöhnten wir uns an ihn. Er roch nach Polen. (Wer weiß, wonach wir rochen!) Aber er brauchte eine Stunde, um sich die Stiefel auszuziehen. Das war eine Leistung für unsere Geduld. Aber er hatte ja die Handschellen. Man konnte ihn nicht erschlagen. Er mußte die Stunde haben zum Stiefelausziehen. Abends immer, wenn die Sonne das Fenstergitter über die Decke spazieren ließ. Das Gitter war stabil. Aber an der Decke sah es aus wie Spinngewebe. Es war Spinngewebe. Und abends roch es bei uns nach Polen. Liebig sagte schon lange nichts mehr. Er sah mich nur manchmal noch an, wenn der Pole zwischen

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