Das Geschenk
Landkarten, und wie diese gefaltet; man hättesie rahmen und als Kunstwerke ausstellen können. Ich mühte mich ab, den Sinn ihrer Arbeit zu verstehen, die feinen, oft tatsächlich mithilfe einer Lupe gezeichneten, untrennbar in sich verschlungenen Linien zu entwirren, dieses Blätterwerk so vieler Rätsel. Eines der Zeichen, irgend etwas Ägyptisches, das mir aus einem ihrer Briefe in Erinnerung geblieben war, entdeckte ich beim Liebesspiel an ihrem Körper wieder, zwischen Nabel und Scham, eine zweite Tätowierung.
Meine Freunde machten sich Sorgen – und machten Witze. Ausgerechnet Chuck, der, wie sie wußten, in seinem Leben nichts mehr verteidigt hatte als die Ehre seiner Unabhängigkeit, bewohnte in den eigenen vier Wänden nur noch, was eine Frau an Platz nicht benötigte, und fand das in Ordnung! Was für eine Art von Kapitulation war das? Er lebte plötzlich, auch wenn seine Bettgenossin nicht da war, enthaltsam! Ausgerechnet er! Und wie häufig und wie lange sie nicht da war, oft über einen Zeitraum mehrerer Monate hinweg; und selbst dann ging er nicht mit ihnen aus. Unter Freunden waren Frauen immer ein Thema, für ihn nicht mehr. Er zog es vor, den Spielverderber zu spielen – und zu schweigen.
Willkommen in schweren Zeiten, Kumpel. Das war Klaus, der einzige, der verheiratet war. Aber sie is'n Schmuckstück, zugegeben!
Und reich ist sie auch. Wieviel hat sie denn so? Das war Ritchie, der jeden Musiker jeder Rockband der letzten zehn Jahre aufsagen konnte. Ein kleiner harmloser Dealer.
Und da war Jamal in seinem eleganten safranfarbenen Gewand, ein groß und feingliedrig gewachsener Inder,der von morgens vier bis zum Mittag in einer Großbäckerei arbeitete – und von Mittag bis Mitternacht mit Ritchie und Klaus zusammen war.
Wach auf, Chuck, es ist doch nur ein Mädchen! Eigentlich sollte sich Jamal auskennen, auch wenn er sich, seiner Wirkung bewußt, auf die reife weiße europäische Frau spezialisiert hatte, die er in seiner Freizeit mühelos eine nach der anderen verführte. Er warf ihnen, kaum daß er sie angesprochen hatte, das I-Ging, was den gewünschten Effekt kaum jemals verfehlte. Die Frauen entspannten sich. Sie schauten in dunkle Augen. Die Haut des Fremden roch gut. Es tat gut, eine Stimme zu hören, die schöne Dinge sagte. Der Vorgang selbst, das Werfen der Münzen, das Zeichnen der Striche, ihre Deutung, versetzte die Membrane ihrer Seelen in Schwingung, wärmte sie bis in die Fußspitzen – Jamal konnte die Sekunden zählen, bis es um sie geschehen war. Du machst dir nur das Leben schwer, Chuck. Was gibst du dich mit Kindern ab. Die alten Sünden sind die besten.
War er vielleicht nur verärgert, daß er ausgerechnet auf sie keinen Eindruck machte?
Jamal stammte aus Bombay und hätte mit seinem Gesicht in seinem Land auch auf der Leinwand eine gute Figur gemacht, hatte sich aber nach München abgesetzt. Wie er sagte: Näher als in Deutschland zu leben, kann man Amerika nicht kommen. Apropos Sünden, wie steht's denn um dein Stehvermögen?
Was hätte ich sagen, was antworten sollen? Ich war aus der Übung, mit Menschen zu sprechen, selbst mit Freunden, und schon gar nicht über mein Verhältnis zu Greta – und das nicht deshalb, weil ich daraus ein Geheimnishätte machen wollen. Es gab kein Geheimnis. Unsere Wege hatten sich gekreuzt, das war alles. Wir waren aufeinander neugierig, und sind es geblieben. Der Sex, den wir hatten, gefiel uns, weil uns Sex gefiel. Sex mit Liebe, Sex ohne Liebe. Es half, daß sie schön war, aber hilfreich war auch, wie wenig sie sich etwas darauf einbildete. Sie konnte wütend werden, deshalb angestarrt zu werden. Sie sollte, ihrer Jugend und Schönheit wegen, in Italien in einem Film die Julia spielen; da war sie dreizehn. Sie reagierte darauf mit einem Wutanfall, der so heftig war, daß er zu einem Zusammenbruch führte. Sie bekam hohes Fieber und mußte danach tagelang das Bett hüten. Die Welt war zum Feind geworden, ihre Schönheit zu einer Wunde. Die Freunde ihres Vaters wünschten das junge Fräulein zu sehen, wenn sie Gäste im Haus waren. Sie wurde dann, und ihre Mutter ließ es zu, wie eine Puppe hereingeführt und begutachtet. Sie mußte sich die Komplimente, die sie machten, anhören und wie sie sich gutmütig über ihren Vater lustig machten. Das ist nicht deine Tochter, versicherten sie ihrem Gastgeber. Und es war kein Scherz. Sie war es, wie sich nach der Scheidung ihrer Eltern herausstellte, tatsächlich nicht. Sie hat ihren
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