Das Geschenk
überhaupt noch eine Reservation möglich gewesen.
Wie lange, glaubst du, sitzt er schon in diesem Ding? Sein ganzes Leben? Wie war das geschehen? Wie ist das passiert?
Was weiß ich, sagte ich, Pfusch bei der Geburt, ein Autounfall, eine Bombe. Vielleicht war der Stier zu stark, gegen den er gekämpft hat.
Eine Bombe?
Er ist Spanier. Und in Spanien gibt es, wie du weißt, jede Menge Terroranschläge, seit langem. Es sterben Menschen. Es gibt Verletzte. Nicht jeder hat Glück.
Greta, eben noch voller Mitgefühl, schwieg.
Ich sah, wie sich der Schatten über sie senkte, wie schwer ihr das, was ich mehr angedeutet als gesagt hatte, zu schaffen machte, aber ich dachte darüber nicht nach. Ich hatte einfach Lust, nicht damit aufzuhören. Ich redete mir etwas von der Seele. Ich hätte es auch dem Schreihals, dem ich Gretas Bekanntschaft verdankte, sagen können. Ich hätte es genug anderen, die ich kannte, sagen können, den Maoisten, Leninisten, Spartakisten, dem ganzen Haufen. Hier, schaut her! Schaut euch den Mann hier im Rollstuhl an. Nehmt nur mal kurz eure Sonnenbrillen ab. Was seht ihr? Erkennt ihr eure Ideen wieder?Der Mensch, ersetzt durch eine Idee. Aber es war nur Greta da, die mir gegenübersaß und mit der Gabel ihr Filet Mignon auf dem Teller hin und her schob. Du stellst einem dieser Menschen eine Frage – und es antwortet dir eine Idee. Du kannst es dir aussuchen. Die Idee der Zukunft, die Idee der höheren Vernunft, die Idee der gerechten Sache. Und auch die Bombe ist eine Idee, der schicke Molotowcocktail, der selbstgebastelte Brandsatz. Sie werfen nur so um sich mit Ideen. Es ist dieses Muster im Gewebe der Geschichte, das ihn, den Mann im Rollstuhl, unsichtbar macht. Ich gab es dann auf. Ich wollte nicht selbst auch noch zum Schreihals werden. Immerhin, sagte ich, er hat seine Arme noch, er kann kochen.
Greta sprach den ganzen Abend kaum noch etwas, schob das Glas mit dem Wein zur Seite, ließ die flambierten Himbeeren mit Vanilleeis, die wir als Dessert bestellt hatten, stehen und hatte es eilig, die Rechnung zu begleichen. Noch in der gleichen Nacht nahm sie den Zug. Wohin, wußte sie vielleicht selbst nicht.
Ich war in eine Frau verliebt, die nichts, was ein Kind anstrengend und unberechenbar macht, hinter sich gelassen hatte, eine Frau, die, wenn schon ein Kind, natürlich ein Junge hätte sein wollen und sich auch am liebsten wie einer benahm. Was immer passiert, hatte sie einmal gesagt, nicht böse sein, hatte meine Wohnung verlassen und war, Stunden später, mit einem Jungen zurückgekommen. Ganz sicher hatte Greta ihn nicht darüber informiert, daß sie dort, wo sie ihn hinschleppte, zwar ungestört, aber nicht allein sein würden. Die Situation machte ihm zu schaffen, und Greta spürte es. Hätte sie ihn nicht irgendwie an mir vorbei in das zweite Zimmerbugsiert, er wäre am liebsten aus der Wohnung gestürmt. Dem Blick, der, als das Manöver geschafft war, mir galt, entnahm ich, daß sie an meiner Zustimmung zu ihrem Stelldichein ohnehin nicht gezweifelt hatte.
War es das, was meine Freunde meinten, als sie sagten, ich sei verrückt? Aber ich verstand das alles, ich verstand die Tat, das Risiko, die Rücksichtslosigkeit. Das alles gefiel mir. Sie ist verrückt, sagte ich mir, ja, und war voller Bewunderung, und gleichzeitig verlegen. Sie dagegen schämte sich niemals, nicht, wenn es vorbei war, und nicht vorher, als sie sich, den Jungen bei sich, noch einmal nach mir umdrehte und mir nachschaute, wie ich in mein Zimmer ging.
Daß sie, wie ich hörte, die Tür hinter sich schloß, war wahrscheinlich nicht einmal ihre Idee.
Noch wahrscheinlicher war, daß sie sich dabei am meisten selbst gehasst hat. Wenn sie schon nicht ihre Eltern töten konnte, mußte sie wenigstens die töten, die ihre Eltern aus ihr hatten machen wollen, das in ihren Kreisen Übliche: die Absolventin einer Klosterschule, später eines Gymnasiums für die Elite, eine geistig und moralisch also bestens ausgebildete hübsche junge Dame. Und was hatten sie bekommen? Als in Bologna eine Bombe hochging, jubelte sie. Als in Turin die Arbeiter streikten, wollte sie eine Arbeiterin in Turin werden. Sie kaufte sich einen roten Stern zum Anstecken, den Stern der Internationale, und befestigte ihn an den Hemden, die sie ihrem um zwei Jahre älteren Bruder aus dessen Schrank entwendet hatte – sollten alle sehen, was sie dachte, sollten alle, die es sahen, sie auslachen! –, und eine Karte von Kuba, die von nun an ihr
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