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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Wondratschek
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was in Reichweite herumlag, schlief wieder ein. Er arbeitete kaum noch, ließ Briefe liegen, reagierte nicht mehr auf Anrufe, löste nicht einmal die Schecks ein, die überfälligwaren. Er ging dann, wenn es Zeit und längst wieder Nacht war, aus dem Haus, in immer die gleiche Bar, seine Bar, die Bar eines Freundes. Er gehörte zur Familie, saß an wechselnden Tischen, redete, trank und rauchte, und ließ sich dann, betrunken und noch immer nicht müde genug, um schlafen zu können, in ein Bordell fahren, wo er blieb, bis das Kokain, das er bei sich hatte, alle war.
    Eben war er noch durch die Nacht und den Schnee gestapft und jetzt, in einem überheizten Zimmer, fror er. Da an Schlaf nicht zu denken war, nicht einmal nach Einnahme von Schlaftabletten, ließ er Wasser in die Badewanne laufen, in der Hoffnung, seinen Kreislauf zur Ruhe zu bringen. Er verlor immer wieder das Gleichgewicht, mußte sich abstützen, fing sich wieder und legte sich hin, wie Jamal es tat, wenn er meditierte: flach auf den Boden. Er lag nicht da wie jemand, der aussieht, als käme er schnell wieder auf die Beine. So liegen Ertrunkene da, Leute, die verbluten, Menschen, die keiner mehr anfassen will. Er hatte die Nummer der Rettung und überlegte kurz.
    Irgend jemand mußte den Stoff mit Speed verschnitten haben. Es war besser, er hielt nur den Kopf unter den Duschkopf. In der Wanne war er schon einmal ohnmächtig geworden und wäre ertrunken, wenn ihn nicht eine Prostituierte, die er morgens mit nach Hause genommen hatte, noch rechtzeitig entdeckt und gerettet hätte – was sie extra berechnete. Er atmete, während er, Arme und Beine weit von sich gestreckt, auf dem Boden lag, wie jemand, der sich anstrengt, seine Atmung in Gang zu halten und sich nicht zu verschlucken. Großer Gott, dachte er, wird das niemals aufhören?
    Wie elend er sich jedesmal fühlte, wenn er – im Koma seines Wachzustands – die ersten Straßenbahnen fahren hörte, wenn im Haus die Türen auf- und zugingen – und die Leute zur Arbeit. Eine Stunde Schlaf. Er würde sich die Zähne ziehen lassen, für jede Stunde Schlaf einen. Dann, er hatte sie schon vergessen, begannen die Tabletten doch noch zu wirken. Vorsichtshalber ließ er die Augen trotzdem offen.
    In diesem Zustand war Chuck jedesmal fest entschlossen, mit den Drogen Schluß zu machen! Er betete, es zu schaffen, und wiederholte die Gebete bis zur Besinnungslosigkeit. Und wenn es die letzte Nachricht sein würde, die er der Welt hinterließ, und wenn niemand sie überlieferte: er würde den Weg zurück finden. In ein paar Stunden, falls er dann halbwegs wieder zurechnungsfähig und bei Kräften sein sollte, würde er handeln, München verlassen, sich Richtung Süden auf den Weg machen, in die Berge gehen und weiter, zum Meer hinunter und weiter, immer weiter, wie auch immer weiter – eine Pilgerreise zurück in die Welt eines Körpers, der kaum mehr der eigene war, den er, wie schon so viele Nächte zuvor, um Verzeihung bat, aber, wie jeder Süchtige, der sich nichts vormacht, auch um noch ein wenig Geduld. Kokain macht aus jedem schlechten Gefühl ein gutes Gefühl, das ist die Lüge. Man mußte den Tag durchstehen. Lügen war nachts leichter. Und nachts tauchte, und zwar jede Nacht, Dante auf, der ihn mit Stoff versorgte, dem besten Kokain weit und breit.
    Nur daß er dann eines Tages nicht mehr auftauchte, nie mehr. Er hatte sich in Amsterdam umgebracht.
    Chuck hatte Erich »Dante« Gilger gemocht. Und Dantehatte Chuck gemocht, den sehr viel älteren von beiden, und es ihn auch gleich so unmißverständlich wie möglich wissen lassen. Von jedem Mädchen in meinem Bett gehört die Hälfte dir, hatte er gesagt; es war ihre zweite Nacht, die sie zusammen auf Koks gewesen waren. Und Dante war kein Schwätzer. Er war, außergewöhnlich für einen mit seinem Lebenswandel, ein durch und durch anständiger Kerl, zuverlässig, mit einem festen Händedruck. Er sah zwar, seit er das Dorf in Niederbayern, in dem er aufgewachsen war, verlassen hatte und in der Stadt lebte, mit seinen ungewaschenen schulterlangen Haaren immer irgendwie verwahrlost, übernächtigt und mitgenommen aus, eine magere, knochige Gestalt, aber er hatte Stil. Es hatte, wie er sich bewegte, Stil. Er tat der Erde, auf die er seinen Fuß setzte, nicht weh. Er nannte sich Dante, weil er immer ein Buch dieses Dichters bei sich hatte – und auch eine Beatrice finden wollte.
    Die, eine Jugendliebe, stand eines Tages bei Chuck vor der Tür, ein

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