Das Geschenk der Sterne
seiner Umgebung selbst vergißt.
Die Luft war erfüllt von den Gerüchen des Sommers. Tschuang Tses Blick schweifte unentwegt von rechts nach links, nach oben und unten, folgte dem Flug einer Libelle, verweilte bei einem üppig blühenden Strauch, stieg den Stamm einer prächtigen Eiche bis zu ihrer Krone empor und schwang sich in den Himmel zu den kleinen weißen Wolken auf, als wollte er die Schönheiten der Natur mit seinen Augen tief in sich aufnehmen.
In Min Tengs Geist kreisten unaufhörlich fragende Gedanken über die unverhoffte Verwandlung seines Lebens, die ihm durch die Begegnung mit Tschuang Tse widerfahren war: Fragen, die ihn mit einer seltsamen Unruhe erfüllten, die sich wiederum in einer nie gekannten Seelenruhe verlor wie Regentropfen in einem Teich. Er war schon einigen bemerkenswerten Menschen begegnet, die ihn beeindruckt hatten, aber noch niemand hatte vermocht, ihn in kürzester Zeit so stark zu beeinflussen, daß es einer Verwandlung gleichkam. Tschuang Tse verfügte über eine ganz besondere Kraft, die in seinen Augen leuchtete, durch sein Verhalten sprach und in seinen Worten wirkte, auch wenn ein oberflächlicher Betrachter in ihm nur einen armen Mann in Lumpen sehen mochte.
Als ein Schmetterling vor den beiden Reitern durch die Lüfte gaukelte, als wollte er ihnen den Weg weisen, sagte Tschuang Tse: »Einmal hatte ich einen Traum. Ich träumte, daß ich ein Schmetterling sei, der glücklich und
fröhlich umherflatterte und nichts wußte von mir. Plötzlich erwachte ich, und da war ich wieder ich. Und ich wußte nicht, ob ich geträumt hatte, daß ich ein Schmetterling sei, oder ob nun ein Schmetterling träumte, daß er ich sei.«
»Ich glaube«, sagte Min Teng, »daß du ein Mensch bist, der geträumt hat, er sei ein Schmetterling.«
Tschuang Tse lachte aus vollem Hals. Min Teng dachte erfolglos darüber nach, was der Grund dieses Gelächters sein mochte, wagte aber nicht, seinen Begleiter danach zu fragen.
Nachdem sein Lachanfall verebbt war, summte Tschuang Tse eine heitere Melodie. Min Teng betrachtete ihn von der Seite und bestaunte seine Sorglosigkeit. Immerhin war er auf der Flucht vor den Häschern Prinz Yans, der ihm nach dem Leben trachtete. Immerhin war er am heutigen Morgen von einem ehemaligen Soldaten überrascht worden, der die feste Absicht gehabt hatte, ihn zu töten. All dies schien nicht die geringste Spur in seinem Gemüt hinterlassen zu haben. Er wirkte wie jemand, der zu seinem Vergnügen durch die Welt reiste und sich weder um das Gestern noch um das Morgen Gedanken machte.
Tschuang Tses weiße, etwas schüttere Haupthaare und sein gleichfarbiger Kinnbart bewegten sich leicht im Wind. Seine aufrechte, entspannte Haltung spiegelte seine innere Aufrichtigkeit und Gelassenheit wider. Etwas ging von ihm aus, für das Min Teng kein Wort wußte. Etwas Zugängliches und zugleich Unnahbares.
Eine innere Kraft, die gleichzeitig zart wie ein Schmetterling und fest wie ein Felsen war. Die größten Gegensätze schienen sich in Tschuang Tse auf rätselhaft harmonische Weise zu vereinen. Trotz seiner ärmlichen Bekleidung strahlte er etwas Erhabenes, Besonderes, hoch über allem Gewöhnlichen Stehendes aus, doch seine Erhabenheit erschloß sich nicht dem gewöhnlichen Blick. Fürst Yan hatte mit dem Instinkt des Tyrannen Tschuang Tses Größe erkannt und sah darin eine Gefahr für seine Herrschaft.
Doch wie stand es mit ihm, Min Teng, der den Mordauftrag des Fürsten ausführen sollte und nun zum Fluchtbegleiter seines vermeintlichen Opfers geworden war? Wie sah er Tschuang Tse? Er verspürte Dankbarkeit für ihn, weil er ihn durch seine Unerschrockenheit davon abgebracht hatte, einen Mord zu begehen; weil er ihm die Augen geöffnet und zu einer inneren Neugeburt verholfen hatte. Min Teng empfand auch Bewunderung und höchste Achtung für ihn, weil er die Größe seiner Seele und die Tiefe seiner Weisheit erkannte oder zumindest erahnte. Aber im Grunde war Tschuang Tse ihm ein Rätsel, das er vielleicht niemals lösen würde. Eins stand zumindest fest: Ein Mensch des Tao war nicht für jedermann erkennbar.
Diese Gedanken brachten Min Teng dazu, Tschuang Tse zu fragen: »Woran erkennt man einen Menschen des Tao?«
Abermals erschien das feine Lächeln auf Tschuang Tses Gesicht, das Min Teng schon mehrmals wegen seiner
Natürlichkeit beeindruckt hatte. »Man kann ihn an gewissen Eigenschaften erkennen, zum Beispiel an seinem Gehör und an seiner Sicht. Der Mensch des Tao
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