Das Geschenk der Sterne
hat ein feines Gehör. Das bedeutet nicht, daß er äußerliche Geräusche und Klänge gut wahrnimmt, sondern daß er die leise Stimme seines Inneren hört und versteht, was sie ihm sagt. Der Mensch des Tao hat eine klare Sicht. Das bedeutet nicht, daß er äußerliche Dinge gut erkennt, sondern daß er die Fähigkeit hat, ins eigene Innere zu schauen. Wer nur die äußeren Dinge sieht und hört und nicht in sein eigenes Selbst schaut und lauscht, der mag viel Fremdes besitzen, aber nicht das Eigene. Er kann sich Fremdes aneignen, aber nicht sein Eigenes, weil er es nicht erkennt. Er ist sich selbst gegenüber blind und taub. Und wenn er die ganze Welt erobert, so ist er doch ein armer Irrer, denn er geht auf dem Weg der Verwirrung, und mit jedem Schritt verliert er sich mehr und mehr.«
EIN KÖNIG IN LUMPEN
Die beiden Männer waren eine gute Weile ohne Unterbrechung geritten, als sie am frühen Nachmittag zwei Jungen im Alter von etwa zwölf Jahren erblickten, die in der Nähe eines Dorfes am Wegesrand standen und sich stritten. Als sie die Reiter bemerkten, unterbrachen sie ihr Wortgefecht und grüßten höflich.
Tschuang Tse hielt sein Pferd an und fragte: »Warum streitet ihr euch?«
Der größere Junge antwortete: »Wegen der Sonne. Ich sage: Wenn sie morgens aufgeht, ist sie den Menschen näher als zur Mittagszeit, wenn sie ihren höchsten Stand erreicht.«
»Nein, es ist umgekehrt«, hielt der kleinere Junge entgegen. »Wenn die Sonne aufgeht, ist sie ferner, und zur Mittagszeit ist sie uns näher.«
Der Größere zog eine mißbilligende Miene und sagte: »Wenn die Sonne am Morgen aufgeht, ist sie so groß wie ein Wagenrad. Zur Mittagszeit ist sie nur so groß wie eine Teeschale. Was ferner liegt, sieht kleiner aus. Was näher ist, sieht größer aus. Also ist uns die Sonne morgens näher als mittags!«
»Nein«, widersprach der Kleinere. »Wenn die Sonne aufgeht, ist sie kühl. Mittags aber ist sie so heiß, daß man ins Schwitzen kommt. Was näher liegt, ist heißer. Was ferner liegt, ist kühler. Also ist uns die Sonne mittags näher als morgens!«
Tschuang Tse lachte. Min Teng bemerkte, daß Tschuang Tses Lachen anders klang als das Lachen aller Menschen, die ihm bislang begegnet waren. Es kam nicht aus dem Hals oder aus dem Brustkorb, sondern tief aus seinem Bauch. Es klang ursprünglich, natürlich und so ansteckend, daß Min Teng in sein Lachen einfiel.
Die beiden Jungen blieben ernst und wirkten ein wenig verärgert, als hätten sie das Gefühl, ausgelacht zu werden.
»Glaubt ihr«, sagte Tschuang Tse, »daß die Sonne sich fragt, ob sie uns mittags näher oder ferner ist als morgens?«
Überrascht von seiner Frage, blieben sie ihm eine Antwort schuldig.
»Glaubt ihr«, fuhr er fort, »daß die Blumen dort und der Baum hinter euch und die Vögel in den Lüften und die Tiere auf dem Land sich fragen, ob die Sonne uns mittags näher oder ferner ist als morgens?«
»Natürlich fragen sie sich das nicht«, antwortete der größere Junge. »Blumen und Bäume und Tiere haben ja keinen Verstand. Den haben nur wir Menschen.«
»Glaubt ihr, daß die Blumen und Bäume und Tiere darüber unglücklich sind, daß sie keinen Verstand haben?« fragte Tschuang Tse. »Wenn ich sie anschaue, habe ich den Eindruck, daß sie glücklich mit ihrem Leben sind. Wenn sie Verstand hätten, würden sie sich auch über neunmalkluge, völlig überflüssige Fragen streiten wie ihr – und schon wäre ihr Glück dahin. Sie leben zufrieden im Einklang mit der Natur. Und was macht ihr? Steht hier in dieser prächtigen Landschaft an diesem herrlichen Sommertag und zankt euch über die Entfernung der Sonne, anstatt die Schönheit der Blumen zu bewundern, dem Gesang der Vögel zu lauschen, den Duft der blühenden Sträucher zu genießen oder im Gras zu liegen, in den Himmel zu schauen und euch mit den Wolken treiben zu lassen. Das habt ihr eurem Verstand zu verdanken! Er verschließt eure Augen und Ohren und Nasen und verstrickt euch in wichtigtuerische, aber unwichtige Gedanken. Er lenkt euch von dem Leben ab, das euch umgibt, macht eure Mienen ernst und verriegelt eure Herzen.«
»Aber es ist doch wichtig herauszufinden, ob die Sonne uns morgens näher ist als mittags«, wandte der kleinere Junge ein.
»Es ist Zeitvergeudung«, erwiderte Tschuang Tse. »Die Natur hat eine Weisheit, die der Verstand nicht begreifen kann. Statt über die Nähe oder Ferne der Sonne
zu streiten, freut euch doch darüber, daß sie nicht
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