Das Geschenk der Sterne
durch den Willen eines abscheulichen Herrschers auslöschen zu lassen, der den Boden, auf dem er geht, mit jedem seiner Schritte beschmutzt.«
Beschämt senkte Min Teng den Kopf und faßte den Vorsatz, sich gegenüber Tschuang Tse nie wieder zu einer voreiligen Schlußfolgerung hinreißen zu lassen.
»Warum hast du mich eigentlich nach meinem Namen gefragt, als ich dich vor meinem Haus vorfand?« fragte Tschuang Tse. »Man hat dir doch bestimmt gesagt, wie ich aussehe.«
»Hauptmann Feng, der Führer der Palastwache, hat mir dein Aussehen beschrieben, als er mir Prinz Yans Befehl übermittelte, dich zu töten. Dein Erscheinungsbild entsprach auch seiner Beschreibung, aber ich wollte ganz sichergehen, daß ich nicht den falschen Mann vor mir hatte.«
Tschuang Tse lachte. »Hauptmann Feng hat den falschen Mann zu dem richtigen Mann geschickt: einen Soldaten, der nicht töten kann!«
»Wahrscheinlich hätte ich dich getötet, wenn du Angst vor dem Sterben gezeigt hättest – wie ein Hund denjenigen beißt, der sich vor ihm fürchtet.«
»Wie auch immer: Was bist du jetzt, Min Teng? Ein Soldat bist du nicht mehr, denn du hast den Befehl deines
Hauptmanns mißachtet. Soldaten müssen gehorchen.«
»Ich weiß nicht, was ich jetzt bin. Ein Flüchtling aus meinem alten Leben bin ich, auf der Suche nach meinem neuen Leben.«
»Hast du es nie als falsch empfunden, daß dein Hauptmann dir befehlen konnte, was immer er auch wollte, und daß du ihm bedingungslos gehorchen mußtest? Hast du nie daran gedacht, daß es die Würde eines Menschen zerstört, wenn er sich die Freiheit seines Willens und Gewissens nehmen läßt?«
»Ich habe öfter daran gedacht und mir immer wieder gesagt, daß die bedingungslose Ausführung von Befehlen ein Opfer ist, das der Beruf des Soldaten verlangt. Verachtest du mich dafür, daß ich ein Soldat war?«
»Nein. Ich achte dich hoch dafür, daß du dir die Freiheit deines Willens und Gewissens erhalten hast, obwohl du ein Soldat warst.«
»Wie konntest du erkennen, daß ich noch keinen Menschen getötet habe?«
»Das habe ich dir bereits gesagt. Ich habe in deine Augen und in dein Herz geblickt. Die Taten eines Menschen hinterlassen Spuren in seinen Augen und seinem Herzen. Die Tötung eines Menschen hinterläßt deutliche Spuren.«
»Nicht jeder kann solche Spuren erkennen.«
»Jeder sieht, was er sehen kann.«
Min Teng war nicht ganz zufrieden mit dieser Antwort und hätte Tschuang Tse gern gefragt, warum er Dinge
sah, die andere Menschen nicht sehen konnten, doch er zügelte seine Neugier mit dem Gedanken, daß Tschuang Tse anders war als alle Menschen, die bislang seinen Lebensweg gekreuzt hatten. Er war ein König unter den Menschen, ein König in Lumpen. Da war es nur folgerichtig, daß er auch eine andere Wahrnehmung hatte.
Außerdem wollte er Tschuang Tse nicht das Gefühl geben, daß er ihm nun doch Löcher in den Bauch fragte.
EIN GESCHENK WIRD VERSCHENKT
Die Reise der Flüchtlinge führte sie durch eine immer hügeliger werdende Landschaft mit hohen Gräsern, an wilden Kirschbäumen, im Wind tanzenden Weiden und in Gruppen stehenden Föhren vorbei, die miteinander zu flüstern schienen. Nur wenige Menschen kreuzten ihren Weg.
Als sie am späten Nachmittag zu ihrer Linken einen Bauernhof mit einem großen Maulbeergarten, Dutzenden von Pflaumen- und Zimtbäumen und einem Stall erblickten, rief Tschuang Tse seinem Begleiter zu: »Laß uns eine kleine Rast einlegen! Ich möchte mir ein bißchen die Beine vertreten.«
Sie hielten an und stiegen ab. Tschuang Tses Blick wanderte über die Landschaft. Im Westen erhob sich der
Tschen-Berg in der Mitte einiger Hügel, die ihn umgaben wie eine Kinderschar ihre Mutter.
»Ich werde bei den Pferden bleiben und auf dich warten«, erbot sich Min Teng.
»Siehst du die kleine Hütte abseits des Bauernhofs? Ich möchte wissen, wer darin wohnt«, sagte Tschuang Tse und machte sich auf den Weg dorthin.
Min Teng fragte sich, was Tschuang Tse ausgerechnet zu dieser unscheinbaren Hütte ziehen mochte, und kam zu dem Schluß, daß er die Beweggründe seines Begleiters sicherlich nicht immer erfassen würde. Um einen Weisen zu verstehen, hatte er einmal gehört, bedarf es eines anderen Weisen. Auch wenn Min Teng nicht mehr wußte, wer er war, so war er sich sicher, daß er kein Weiser war. Gedankenverloren blickte er Tschuang Tse nach, der mit langsamen Schritten durch das hohe Gras auf die einen Steinwurf östlich des Bauernhofs liegende
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