Das Geschenk der Sterne
den ganzen Tag so heiß ist wie am Mittag, weil wir dann alle ständig schwitzen würden. Und freut euch darüber, daß sie nicht den ganzen Tag so kühl ist wie am Morgen, weil wir dann alle ständig frieren würden.«
Die Jungen schienen nicht recht zu wissen, was sie von Tschuang Tses Worten halten sollten. Sie wirkten etwas verstört, aber zugleich trotzig, als wollten sie seinen Ratschlag nicht annehmen. Dennoch verabschiedeten sie sich höflich von den Reitern, die ihre Pferde wieder in Bewegung setzten.
»Du hast sie verwirrt«, sagte Min Teng, als sie ein Stück weitergeritten waren.
»Sie waren schon verwirrt, bevor wir sie trafen. Manchmal reizt es mich, Verwirrte in noch größere Verwirrung zu bringen, aus der im Glücksfall eine kleine Klarheit entstehen kann. Das nenne ich: die Saat des Tao auswerfen. Ich mache es hin und wieder gern, auch wenn nur eins von vielen Saatkörnern auf fruchtbaren Boden fällt.«
»Hast du bemerkt, daß die Jungen hinter unserem Rücken gelacht haben, als sie glaubten, daß wir es nicht mehr hören würden?« fragte Min Teng.
»Ja, ich habe es bemerkt.«
»Vielleicht war das ein Zeichen dafür, daß sie dich nicht ernst genommen haben.«
»Es war ein Zeichen dafür, daß die Saat des Tao ihnen nicht schmeckte und sie ihren fremdartigen Geschmack fortzulachen versuchten. Das Tao wirkt auf die Menschen wie etwas Fremdes, dem sie mit Mißtrauen begegnen.
Sie haben sich so weit vom höchsten Sinn entfernt, daß sie die Urkraft scheuen, die sie geboren hat und wieder sterben läßt. Sie gleichen Vögeln, die ihren Flügeln nicht mehr trauen und deshalb nicht mehr fliegen. Mit der Zeit vergessen sie, daß sie Flügel haben, und hüpfen wie Frösche durch das Leben. Darüber kann man nun weinen oder lachen. Der Verstand beherrscht die Welt, weil die Menschen die Flügel ihrer angeborenen Weisheit vergessen haben. Der Verstand ist nur eine Kerzenflamme gegen das Sonnenlicht der Weisheit, aber wenn man im Dunkel der Verwirrung lebt, kann man schon auf den Gedanken kommen, eine Kerzenflamme zu bewundern. Menschen, die sich vom Verstand beherrschen lassen, sind Sklaven ihrer Verworrenheit – aller Freiheit, Leichtigkeit und Weisheit beraubt. Sie würden das Tao nicht einmal erkennen, wenn es direkt vor ihnen stände.«
»Glaubst du, daß der Verstand der Menschen die Wurzel allen Übels in der Welt ist?«
Tschuang Tse schüttelte den Kopf. »Die Wurzel allen Übels ist der Verlust der Einheit mit dem Tao. Der Verstand ist ein sehr guter Diener, der allerdings den unseligen Ehrgeiz hat, sich zum Meister aufzuschwingen. Wenn Weisheit den Verstand beherrscht und lenkt, kann er ein Segen sein, doch wenn er ohne die Führung der Weisheit eigenmächtig waltet, wird er leicht zu einem Fluch.«
»Versuchst du, den Menschen zu helfen, das Tao zu finden?«
»Ich habe keine Absichten und Vorsätze. Wer seine
Tage plant, läßt sein Leben erkalten und abstumpfen, denn es ist das Unvorhergesehene, das dem Leben Wärme und Glanz gibt. Ich stehe morgens auf und lasse mich überraschen, wohin die Strömungen des Tages mich treiben werden. Wenn mir jemand über den Weg läuft, weiß ich vorher nie, was geschehen wird. Es entscheidet sich im Augenblick. Bei manchen Menschen werfe ich die Saat des Tao aus, bei anderen nicht, ohne daß ich weiß, warum es so ist. Es geschieht von selbst.«
»Du hast überhaupt keine Absichten und Vorsätze?« fragte Min Teng ungläubig.
»Lebten die Menschen im Einklang mit dem Tao, würde ich nach Vollkommenheit streben. Aber wenn die Menschen außerhalb des höchsten Sinnes leben, bemüht sich der Mensch des Tao nur noch darum, sein Leben zu erhalten. In einer Zeit wie der unseren ist das einzige, was er sich erhofft, Bestrafung zu vermeiden. Denn er ist ein Teil der Natur geblieben und somit ein Dorn in den Augen derjenigen, die sich von der Natur entfremdet haben. Der Mensch des Tao, selbst wenn er in Lumpen einhergeht, ist ein König unter den Menschen, die aus dem Tao gefallen sind, und wenn sie dies erkennen, werden sie von Neid und Haß auf ihn ergriffen und von Übelwollen gelenkt.«
»Dann richtet sich dein Streben nur danach, Bestrafung zu vermeiden?«
»Würde ich sonst vor den Häschern Prinz Yans flüchten?«
»Also hast du doch Angst vor dem Tod, denn sonst würdest du nicht vor ihnen flüchten!«
»Eine falsche Schlußfolgerung«, erwiderte Tschuang Tse. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber es widerstrebt mir zutiefst, mein Leben
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