Das Geschenk der Sterne
Hütte zuging.
Als Tschuang Tse sie erreicht hatte, kam ein schlanker, barfüßiger Mann aus ihrem Inneren hervor, der etwa ein Jahrzehnt jünger sein mochte als er; seine Kleidung dagegen war nicht minder alt und zerschlissen als die seines Besuchers. Die beiden Männer blickten sich kurz in die Augen und begrüßten sich dann mit einer so freudigen Natürlichkeit, als wären sie gut miteinander befreundet.
»Mein Name ist Tschuang Tse. Ich reite mit meinem Begleiter nach He Jing«, erklärte der Weise, »und wollte meine Beine ein bißchen vertreten, wobei mir deine
Hütte als ein gutes Ziel erschien, obwohl ich im allgemeinen die Ziellosigkeit vorziehe.«
»Ich heiße Han Ting und freue mich über deinen Besuch. Magst du dich mit mir ins Gras setzen? So läßt es sich besser reden als im Stehen.«
Die beiden Männer ließen sich im Schatten der großen Eiche nieder, die wie ein treuer Wächter neben der Hütte stand und ihre Äste schützend über das Dach ausbreitete.
»Was willst du in He Jing machen?« fragte Han Ting.
»Ich möchte dort meinen Freund Kun Liang besuchen, den ich lange nicht gesehen habe. Und was machst du in deiner Hütte?«
Han Ting lachte. »Ich reise auch. Ich gehe den Weg vom Ich zum Selbst. Der Weg ist lang, und ich habe nicht viel Zeit. Wir sind in dieser Welt nur für einen Augenblick. Ich bin schon fast fünfzig Jahre alt, doch wenn ich zurückblicke auf meine Jugend, erscheint sie mir manchmal so nah, als wären seitdem nicht ein paar Jahrzehnte, sondern nur ein paar Monate vergangen. Die jungen Leute denken alle, ihr Leben würde ewig dauern. Und sagt man ihnen, daß es schneller dahinziehen wird als Wolken im Sturm, wollen sie es nicht glauben. Deshalb erfreue ich mich an jedem neuen Tag, der mir geschenkt wird. Freuden sind die Gewürze des Lebens, ohne sie schmeckt es fad.«
»Was sind deine größten Freuden?« fragte Tschuang Tse.
»Ich ziehe gern umher«, antwortete Han Ting, »spreche
zu den Bäumen, lausche den Gesprächen der Vögel, lasse mich von Sonne und Wind liebkosen und genieße das Gefühl, ein Teil der Natur zu sein. Wenn ich mich ins Gras bette und in den Himmel schaue, bin ich nach einer Weile nicht mehr ich, sondern ein Teil des Himmels. Spreche ich zu den Bäumen und höre ihre lautlosen, freundlichen Antworten, bin ich nicht mehr ein Mensch, sondern ein Baum. Je mehr ich mein Ich vergesse, desto mehr Freude fühle ich. Das Ich ist eine Welle, die sich für das Meer hält. Das Selbst ist das Meer.«
Tschuang Tse lächelte. »Aus dir spricht die sanfte Stimme der Weisheit, Han Ting. Nun weiß ich, warum es mich zu deiner Hütte zog.«
»Mein jüngerer Bruder und seine Frau halten mich nicht für weise, sondern für einen Sonderling. Es fällt ihnen schwer zu verstehen, daß ich ziellos in den Tag hinein lebe, daß ich keinen Ehrgeiz habe und die Gesellschaft von Bäumen höher schätze als die von gewöhnlichen Menschen. Als ich jung war, dachte ich, Brüder würden sich verstehen. Aber körperliche und seelische Verwandtschaft gehen oft nicht Hand in Hand. Dennoch achten wir einander. Ich helfe meinem Bruder bei der täglichen Arbeit und verdiene mir so mein Essen und meinen Platz in dieser Hütte. Mein Bruder neigt nicht zum Trübsinn, doch ich habe ihn seit Wochen nicht mehr lachen gehört. Die lange Dürre in diesem Sommer macht ihm Kummer, die Falten auf seiner Stirn werden immer tiefer, von früh bis spät müht er sich ab und kommt nicht zur Ruhe. Abends sinkt er erschöpft auf seine
Schlafmatte und bittet den Himmel um Regen, aber der Himmel erhört sein Flehen nicht. Der Regen wird kommen, wenn es soweit ist, wie alles im Leben.«
Tschuang Tse nickte zustimmend.
»Neulich warf mein Bruder mir vor«, fuhr Han Ting fort, »daß ich ohne Ehrgeiz sei. Ich fragte ihn daraufhin, warum ich mich anstrengen, warum ich kämpfen sollte. Mußte ich mich im Bauch meiner Mutter anstrengen, um geboren zu werden? Mußte ich als Kind kämpfen, um zu wachsen? Es geschah alles von selbst, die Natur ließ es geschehen. Wer bin ich, mich gegen die Weisheit der Natur aufzulehnen? Ich überlasse mich ihrem Fluß, gebe mich ihrem Wirken hin und fühle mich geborgen in ihrem Schoß. Der Natur angehören, natürlich sein, das ist mein Weg. Sollen die Menschen mich ruhig für einen Nichtsnutz und Faulpelz halten! Ich lasse mich nicht von ihnen maßregeln, ich folge den Regeln und dem Maß des großen Ganzen. Sollen sie vor Anstrengung stöhnend durch ihre Tage eilen,
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