Das Geschenk der Sterne
sollen sie die Lasten schleppen, die sie sich aufgebürdet haben! Ich will leichten Schrittes durch das Leben gehen. Sollen sie mich nur schelten und verachten! Ich schelte und verachte sie nicht. Ich lasse sie so leben, wie sie es für richtig halten, auch wenn sie meine Art zu leben, verurteilen und schmähen.«
Tschuang Tse lächelte. »Hast du schon einmal von dem Tao gehört?«
»Nein. Was ist das Tao?«
»Oh, das ist nicht leicht zu sagen, aber eigentlich
brauche ich es dir nicht zu erklären, denn du hast es bereits gefunden, ohne zu wissen, daß du es überhaupt gesucht hast – was übrigens die beste Art ist, es zu finden.«
Han Ting schien sich über Tschuang Tses Worte zu freuen, doch das Lächeln wich aus seinem Gesicht, als er weitersprach: »Vor einer Woche bin ich auf einer Wanderung einem sehr kaltherzigen, jungen Mann begegnet, dem mein Leben weniger wert war als meine Schuhe. Er zog seinen Dolch und sagte: ›Gib mir deine Schuhe – und ich lasse dir dein Leben. Gibst du sie mir nicht, nehme ich dir dein Leben und deine Schuhe!‹ Ich zog meine Schuhe aus und gab sie ihm. So konnte ich mein Leben retten, aber nun kann ich nicht mehr auf den Tschen-Berg steigen, wo ich mich dem Himmel immer so nahe fühle. Barfuß ist der Aufstieg nicht zu bewältigen. Ach, es ist wunderbar dort oben!«
»Warum begeistert dich der Tschen-Berg so sehr?«
»Es ist so friedlich dort. Keine Menschenstimmen durchdringen die tiefe Stille. Die Steilwände ragen erhaben in die Höhe, in den Kiefern stöhnt der Wind, keine Schritte stören den Frieden der Gräser. So weit das Auge sieht, erblickt es Grenzenlosigkeit. Ich atme den Frieden des Berges tief in mich ein und spüre, wie ich mein Ich immer tiefer unter mir zurücklasse und meinem Selbst immer näherkomme, weit entfernt vom Lärm und Staub der Welt. Mal steige ich in die Schlucht hinunter, die sich im grünen Bach spiegelt, mal sitze ich auf einem mächtigen Felsen und lerne von ihm, was Ruhe bedeutet. Der Berg ist mein Zuhause, viel mehr als diese Hütte
auf dem Land meines Bruders, wo ich nur geduldet bin. Auf dem Berg, weitab von den rastlosen Geschäften der Welt, geht meine Seele an einem Tag Wege, für die sie hier unten eine Woche braucht. Was für den Reisenden ein schnelles Pferd ist, das ist für mich der Tschen-Berg auf der Reise zu meinem Selbst.«
Tschuang Tse beugte sich vor, zog seine Schuhe aus und reichte sie Han Ting, der abwehrend die Hände hob.
»Nein, nein! Du bist sehr gütig, aber deine Schuhe kann ich nicht annehmen!«
»Doch, das kannst du guten Gewissens. Ich habe noch ein anderes Paar in der Satteltasche, das ich im Grunde lieber trage als dieses.«
Han Ting nahm das unverhoffte Geschenk mit strahlenden Augen an.
Die beiden Männer standen auf, verbeugten sich zum Abschied in tiefer Achtung voreinander, und Tschuang Tse machte sich auf den Rückweg.
»Wo hast du deine Schuhe gelassen?« fragte Min Teng, als sein Blick auf die nackten Füße des Weisen fiel.
»Ich gab sie einem Mann des Tao, der sie nötiger braucht als ich«, erklärte Tschuang Tse und zog seine alten Schuhe aus der Satteltasche seines Pferdes hervor.
DAS ERSTARRTE MÄDCHEN
Die Sonne stand schon ein gutes Stück tiefer, als die beiden Reiter zu ihrer Rechten nicht weit vom Weg ein Haus sahen, auf dessen Terrasse ein etwa sechsjähriges Mädchen in einem roten Kleid stand. Tschuang Tse winkte ihm zu, doch es regte sich nicht. Das einzige, was sich an ihm bewegte, waren seine vollen hüftlangen Haare, mit denen der Wind spielte.
Während sie an dem Haus vorbeiritten, ließ Tschuang Tse das Mädchen nicht aus den Augen, und schließlich rief er Min Teng zu: »Warte! Etwas stimmt mit diesem Mädchen nicht.«
Überrascht brachte Min Teng seinen Rappen zum Stillstand: »Was stimmt mit ihm nicht?«
»Ist dir nicht aufgefallen, daß es wie ein hölzernes Standbild vor dem Haus steht? So, als sei es erstarrt. Es muß uns gesehen haben, doch sein Kopf folgte unseren Bewegungen nicht. Kinder sind neugierig, ihre Blicke folgen den Dingen, die sie sehen. Doch dieses Mädchen steht dort so reglos, so verschlossen gegenüber seinen Wahrnehmungen, als sei es blind.«
»Vielleicht ist es blind«, erwog Min Teng.
»Das glaube ich nicht. Laß uns zu ihm reiten!«
Min Teng nickte zustimmend und folgte Tschuang Tse, der seinen Braunen zu dem Haus lenkte. Als sie sich dem Mädchen näherten, fiel auch Min Teng auf, daß es sich ungewöhnlich verhielt. Völlig reglos
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