Das Geschenk der Sterne
rief Tschuang Tse.
Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür, und ein Mann in Tschuang Tses Alter trat auf die überdachte Terrasse. Im Gegensatz zu dem feingliedrigen Tschuang Tse war er kräftig gebaut. Die Jahrzehnte hatten seine Haare noch nicht zu bleichen vermocht. Sein anfänglich ernster Gesichtsausdruck wich einem freudigen Lächeln, als er erkannte, wer ihn gerufen hatte. Seine strahlenden Augen verrieten Freude.
Die beiden Männer gingen aufeinander zu, blieben voreinander stehen und blickten sich wortlos lächelnd an. Min Teng, der bei den Pferden geblieben war, spürte die Stärke ihrer Wiedersehensfreude, die auf eine lange, gute Freundschaft hindeutete.
»Dies ist Min Teng«, sagte Tschuang Tse und wies auf seinen Begleiter.
Min Teng und Kun Liang verbeugten sich voreinander.
»Und dies ist ein Mädchen, dessen Name wir nicht kennen. Ihre Eltern wurden umgebracht, und der Schrekken darüber hat sie innerlich erstarren lassen. Es scheint so, als würde sie nicht mehr wahrnehmen, was um sie herum geschieht. Ich hoffe, daß du ihr helfen kannst.«
Kun Liangs Blick fiel voller Traurigkeit und Mitgefühl auf das Waisenkind.
»Ich werde mein Bestes tun. Kommt herein! Gerade
war ich dabei, mir ein Essen zu machen. Ihr habt sicherlich auch Hunger und Durst. Vielleicht können wir das Mädchen dazu bewegen, etwas zu essen und zu trinken.«
Die Ankömmlinge nahmen die Sättel von ihren Pferden und folgten mit dem Kind Kun Liang in sein Haus.
SANDKÖRNER IM WIND DER SCHÖPFUNG
Das Mädchen saß teilnahmslos auf der Sitzmatte neben Tschuang Tse vor den Schalen mit den Speisen, die Kun Liang für seine unverhofften Gäste aufgetischt hatte. Auch Durst schien es nicht zu verspüren. Die behutsamen Versuche Kun Liangs, es zu füttern, erwiesen sich als erfolglos.
»Hat das Mädchen den Mord an seinen Eltern gesehen?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Tschuang Tse auf die Frage seines Freundes.
»Es hat höchstwahrscheinlich die Leichen seiner Eltern gesehen. Sie waren schrecklich zugerichtet«, ergänzte Min Teng.
»Wenn es so war, hat dieser Anblick sie in ihre Starre versetzt«, brach Kun Liang das Schweigen, das nach Min Tengs Worten eingetreten war. »Sie nimmt uns wahr, doch wir können nicht zu ihr durchdringen. Sie hat eine unsichtbare Mauer um sich herum gezogen. Dies ist eine Schutzmaßnahme ihrer Seele, die ihr helfen soll, an dem Furchtbaren, das sie erlebt hat, nicht zu zerbrechen. Es wäre falsch und gefährlich zu versuchen, sie aus ihrer Lähmung zu reißen. Man muß behutsam mit ihr umgehen und ihr die Zeit geben, die sie braucht. Wenn sie aus ihrer Erstarrung erwacht, wird sie sich vielleicht an ihr schreckliches Erlebnis nicht mehr erinnern können. Es ist gut, daß ihr sie zu mir gebracht habt. Leider erlaubt meine Arbeit nicht, daß ich mich in dem Maße um sie kümmern kann, wie sie es jetzt braucht. Sie benötigt Menschen, die immer für sie da sind und ihr mit ihrer Nähe Halt und Vertrauen schenken. Man darf das Mädchen in der nächsten Zeit keinen Augenblick allein lassen. In meiner Nachbarschaft wohnt ein Ehepaar, das keine Kinder bekommen kann, obwohl es sich das so sehr wünscht. Es sind zwei gütige, warmherzige Menschen. Sie werden das arme Mädchen gern fürs erste bei sich aufnehmen und es wie ihre eigene Tochter behandeln. Sie können ihm die ständige Liebe, Aufmerksamkeit und Geborgenheit geben, die es jetzt braucht, um seinen furchtbaren Schrecken und den großen Verlust zu überwinden. Und ich werde so viel Zeit mit ihr verbringen, wie ich eben erübrigen kann.«
Kaum hatte Kun Liang diese Worte gesagt, schloß das
Mädchen seine Augen, sackte zur Seite und war im Nu eingeschlafen.
»Schlaf gut, mein Kind«, murmelte Kun Liang und legte liebevoll eine Decke über die Waise.
Nach dem Essen, das die drei Männer schweigend eingenommen hatten, erzählte Tschuang Tse in knappen Worten von seiner Begegnung mit Min Teng und ihrer Entscheidung, gemeinsam nordwärts nach Wei zu flüchten, um sich Prinz Yans Machtbereich zu entziehen.
»Prinz Yan ist ein giftiger Verbrecher, ein heimtückischer Mörder, der Angst und Schrecken im Land verbreitet!« sagte Kun Liang mit Zorn in der Stimme. »Gäbe es in Sung Gerechtigkeit, würde er schon lange nicht mehr auf seinem Thron sitzen, sondern vom Scharfrichter geköpft in der Erde verwesen! Viele Menschen in dieser Stadt denken so, doch niemand wagt es, seine Überzeugung in der Öffentlichkeit auszusprechen, denn
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