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Das Geschenk der Sterne

Das Geschenk der Sterne

Titel: Das Geschenk der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Kruppa
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Blick«, erwiderte Tschuang Tse. »Sieht man genauer hin, erkennt man wesentliche Unterschiede. Das Begehren hat immer ein Ziel, die Sehnsucht kennt ihr Ziel oft nicht. Sie weiß oder ahnt nur, daß etwas fehlt. Das Begehren weiß genau, was ihm fehlt. Deshalb sind die Schritte des Begehrens immer fest und geradlinig, während der Weg der Sehnsucht sich wie ein Fluß durch eine hügelige Landschaft schlängelt und manchmal sogar Kreise beschreibt. Das Begehren gleicht laut und fordernd gesprochenen Worten, die Sehnsucht hingegen ist ein leises Lied.«
    Nachdem Min Teng über Tschuang Tses Antwort nachgedacht hatte, bat er Kun Liang, ihm den zweiten Spruch Lao Tses vorzulesen.
    Der Heilkundige blätterte um und las: »Wer das Schöne bestimmt, bestimmt zugleich das Häßliche. Wer das Gute festlegt, legt zugleich das Böse fest. Sein und Nichtsein erschaffen einander; Schweres bedingt Leichtes; Langes erzeugt Kurzes. Hohes schafft Niedriges, Lautes bewirkt Leises, Vergangenes zeugt Gegenwärtiges.
Darum handelt der Weise durch Nichthandeln, lehrt ohne Worte und läßt den Dingen ihren natürlichen Lauf. Er erzeugt, aber besitzt nichts. Er erschafft, aber erwartet nichts. Er vollendet, aber kennt kein Ende. Und weil er nichts festhält, kann ihm nichts genommen werden.«
    Während Min Teng diese Worte in sich nachklingen ließ, erschien es ihm, als hätten sie eine ähnliche Wirkung wie der prächtige Sternenhimmel mit seinem wundersam beruhigenden Mond, der seine innere Erregung beschwichtigt hatte. So ungreifbar und doch so nah wie die Sterne, so geheimnisvoll und doch so vertraut wie der Mond erschienen ihm die Gedanken Lao Tses, die ihn gleichzeitig erregten und beruhigten und eine Ahnung tief in ihm erweckten, daß etwas unsagbar Wertvolles auf dem Grund seiner Seele darauf wartete, von ihm entdeckt zu werden.
    Ungreifbar und doch so nah: Wirkte nicht auch Tschuang Tse so auf ihn? Geheimnisvoll und doch so vertraut: Wirkte nicht auch Yu Lin so auf ihn? Wie kam es nur, daß Tschuang Tse, Yu Lin, die Sterne, der Mond und die Worte Lao Tses ähnliche Wirkungen auf ihn hatten? Wie kam es, daß er Dinge verstand und zugleich nicht verstand? Sein neues Leben, das am heutigen Mittag begonnen hatte, war voller Fragen, Ungewißheiten, Rätsel und Geheimnisse. Alles, was ihm noch gestern als verläßlich und verständlich, als sicher und vertraut erschienen war, hatte sich in Luft aufgelöst.
    Sein Blick fiel auf das Buch des Lao Tse, das Kun Liang
wieder auf den Tisch gelegt hatte, und er nahm sich fest vor, so bald wie möglich die Schriftzeichen zu erlernen, um eines Tages dieses Buch selbst lesen zu können.
    »Wohin werdet ihr euch wenden, wenn ihr die Grenze nach Wei überquert habt?« tauchten Kun Liangs Worte wie kleine Steine in den Fluß seiner Empfindungen und Gedanken ein.
    »In der Stadt Gao Tscheng, einen Tagesritt von der Grenze entfernt, lebt mein Freund Schi Wong. Er wird uns sicherlich gern helfen, Fuß zu fassen, und dann werden wir schon sehen, was geschieht«, antwortete Tschuang Tse und gähnte.
    »Ich werde zwei Schlafplätze für euch im Nebenzimmer herrichten«, sagte Kun Liang und erhob sich. »Ihr habt einen anstrengenden Tag vor euch und solltet bald schlafen, damit ihr morgen im Vollbesitz eurer Kräfte seid!«

DRITTER TEIL

DER GLEITFLUG DES ADLERS

    Tschuang Tse und Min Teng mußten nicht lange auf Yu Lin warten, die sich auf einem Schimmel im Galopp dem Hügel der sieben Eschen näherte. Sie trug weiße Kleidung, ihr langes Haar flatterte im Wind.
    Die junge Frau stieg von ihrem Pferd ab und begrüßte die Männer mit der ihr eigenen Anmut und Freundlichkeit, konnte aber nicht verbergen, daß sie Traurigkeit im Gepäck ihres Herzens mit sich führte. Auch wirkte sie ein wenig müde.
    »Du reitest ein schönes Pferd«, sagte Min Teng.
    »Mein Vater war Pferdehändler. Nach seinem Tod haben wir nach und nach alle seine Pferde verkaufen müssen, doch von dieser Stute konnte ich mich nicht trennen«, erklärte Yu Lin und setzte sich zu den beiden Männern ins Gras.
    »Hast du nicht gut geschlafen?« fragte Tschuang Tse.
    »Weder gut noch lange, weil meine Gefühle mir keine Ruhe ließen. Als ich He Jing verlassen hatte und einen letzten Blick auf die Stadt zurückwarf, konnte ich bei dem Gedanken, daß ich Kun Liang und meine Freundin Wan Jing nie mehr wiedersehen würde, die Tränen nicht zurückhalten. Auch der Abschied von meiner ahnungslosen Mutter fiel mir schwerer, als ich gedacht hatte.

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